Unsere Sachbuch-Lieblinge in 2023:
Nächstes Jahr in - Comics und Episoden des jüdischen Lebens
„(Doch) Jüdinnen und Juden sind nicht nur Opfer, ihre Geschichte erzählt nicht nur von Diskriminierung, Vertreibung und Vernichtung. 1700 Jahre Judentum in Deutschland bedeuten auch, dass das Judentum ein großer und bereichernder Teil der deutschen Kultur ist.“ Dieser Satz, der erst auf Seite 163 unter der Überschrift „Jüdisches Leben in der Gegenwart“ zu finden ist, erklärt, warum man sich hier und heute mit jüdischem Leben in Deutschland auseinandersetzen sollte. Es gibt eine Vielzahl von Büchern, vom Sachbuch bis hin zum Roman, die sich dem Thema widmen – und doch ist der 2021 im Ventil Verlag erschienene Comic sehr besonders: In ihm werden nicht nur mehrere Geschichten erzählt, die in jeweils anderen Jahrhunderten angesiedelt sind, sie werden auch mit unterschiedlichen Mitteln erzählt. Denn es sind immer andere Illustrator*innen und verschiedene Herangehensweisen, mit denen das Leben Einzelner beschrieben wird. Bei Mascha Kaleko ist es beispielsweise ein illustriertes Gedicht, bei Fanny Azenstarck gibt es erklärende Bildunterschriften, und um die Jüdische Berufsfachschule Masada zu veranschaulichen, erfindet Hannah Brinkmann das Paar Ziva und Yaakov. Das Buch besteht aus elf sich ergänzenden Beiträgen, dazwischen sind jeweils zwei Doppelseiten mit Hintergrundinformationen.
„Nächstes Jahr in“ ist, nicht nur weil viele Geschichten in Südhessen angesiedelt sind, ein wichtiges Buch, für Erwachsene ebenso wie für Jugendliche!
Ventil Verlag, 978-3-955751-59-3, € 25,00
Slowenien II
Irene Hanappi / Stefan Schomann: Lesereise Slowenien
„Für ein Land, das über Jahrhunderte hinweg keines war, das weder über eine eigene Regierung noch über eine eigene Armee verfügte, besitzen Sprache und Kultur eine noch weit tragendere Funktion als für etablierte Staatsgebilde.“ Es braucht ein bisschen, bis dieser Satz auftaucht. Bis dahin habe ich in diesem Buch schon viel über slowenische Lebensart, über die Geschichte des Landes und über ihre Literatur gelesen. Und danach folgen kleine Geschichten über Naturschätze, Weinbau, Ljubljana, besondere Grenzverläufe und vieles mehr - immer sprachlich schön, nicht kitschig und doch gefühlvoll.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – bei mir fand Slowenien bisher eigentlich nicht statt. Weder konnte ich das Land genau verorten, noch hatte ich mich mit Kultur, Landschaft, Kunst oder Sprache jemals beschäftigt. Wenn ein Land das Gastland der Frankfurter Buchmesse wird, dann nutze ich gerne die Gelegenheit, es besser (im Falle von Slowenien: es überhaupt) kennenzulernen. Oft fange ich mit einem Buch an, dass Land und Leute beschreibt, nicht in Form eines klassischen Reiseführers, sondern eher als ein Lesebuch. Diesmal ist meine Wahl auf die sehr interessante und vielfältige Reihe im Picus Verlag gefallen, rund hundert Titel gibt es, Slowenien ist eine der Neuerscheinungen 2023. Tatsächlich haben die beiden Schreibenden mir das Land so wunderbar beschrieben, dass es umgehend auf der Reiseliste gelandet ist … Wer Slowenien zumindest auf Papier entdecken möchte, dem sei „Lesereise Slowenien“ sehr ans Herz gelegt!
Picus Verlag, 978-3-7117-1118-2, € 16,00
Marina Weisband / Frido Mann: Was uns durch die Krise trägt
Ein Generationengespräch – so lautet der Untertitel zu diesem Buch. Tatsächlich gibt es aber nicht nur den Altersunterschied, der die beiden trennt. Marina Weisband ist in Kyiv geboren und in den 1990er Jahren nach Deutschland immigriert; ihr Blick auf Russland und die Ukraine sowie den russischen Einmarsch ist geprägt durch eigenes Erleben und das Wissen um historische Zusammenhänge. Frido Mann hingegen verbrachte seine frühe Kindheit in den Vereinigten Staaten und ist immer wieder dorthin zurückgekehrt; sein Wissen über die demokratischen Strukturen dort speist sich aus diesen Besuchen. Aber es gibt auch viele verbindende Elemente – das Erleben von Migration und Gemeinschaft, Spiritualität und Religion zum Beispiel. Oder auch die Überzeugung, dass die Demokratie einerseits nicht einfach zu leben ist, weil sie uns immer wieder Entscheidungen und Mitarbeit abverlangt. Sie andererseits aber die Staatsform ist, die dem Anspruch an Freiheit und Würde am ehesten gerecht wird. Das Buch ist tatsächlich durch eine Gespräch entstanden und wurde in eben dieser Form auch gedruckt, dazwischen gibt es immer wieder Seiten, auf denen Weisband oder Mann ein Thema genauer erklären.
Das alles ist nicht sehr schwer zu lesen und mit knapp 200 Seiten braucht es auch nur einen überschaubaren Zeitrahmen. Aber die Ansätze der beiden, die eben gerade keine „einfachen“ Verhaltensanregungen sind, keine „einfachen Lösungen“, sondern komplexe Ideen, die vielfältig umgesetzt werden können, diese Ansätze beschäftigen weit über die Lesezeit hinaus. Weisband und Mann zeigen auf, dass einzelne Problemstellungen nicht isoliert betrachtet werden können. Sie kommen aber genau auch zu dem Schluss, dass jeder Einzelne etwas tun kann: Und das ist tatsächlich eine gute Nachricht!
Verlag wbg Theiss, 978-3-8062-4583-7, € 20,00
Konrad Paul Liessmann: Gedankenspiele über die Verantwortung
Die Reihe „Gedankenspiele“ des Grazer Literaturverlags Droschl umfasst mittlerweile 13 Titel. Sie widmen sich den unterschiedlichsten Themen, von Eleganz über Glück, Sehnsucht, Mut bis Wahrheit – und die unterschiedlichsten Autor*innen haben hierfür Texte verfasst. Es sind sehr bekannte Namen dabei – Michael Köhlmeier, Clemens J. Setz, Felicitas Hoppe, Marlene Streeruwitz –, aber auch eher unbekannte Schreibende. Konrad Paul Liessmann zum Beispiel, Professor der Philosophie i.R. und Kritiker, Essayist und Kulturpublizist, zählt zu den eher weniger Bekannten. Obwohl er bei Hanser und Zsolnay veröffentlicht, aber seine Bücher sind eben Sachbücher. Die bekannten Schriftsteller*innen haben immer auch ein belletristisches Werk veröffentlicht.
Verantwortung heißt Liessmanns Thema in dieser Reihe. Er nähert sich auf unterschiedlichen Wegen an, sortiert Wortgenau, im Verhältnis von Macht und Freiheit, geologisch, historisch oder bezüglich Zukunft. Es ist nicht immer einfach, ihm zu folgen – und ich ertappe mich dabei, dass ich ihm gar nicht immer folgen will: Nicht alle Überlegungen passen in mein Lebenskonzept. Aber er begründet viel- und sorgfältig, und zeigt auch auf, wohin das Nicht-Übernehmen von Verantwortung führt: zu Unfreiheit und/oder Abhängigkeit. Das Buch wird wohl eine Weile auf meinem Tisch liegen, damit ich immer wieder hineinlesen kann …
Literaturverlag Droschl, 978-3-99059-133-8, € 12,00
Nathalie Pernstich / Konrad Pernstich: Pfeffer – Rezepte und Geschichten um Macht, Gier und Lust
„Was soll es schon über Pfeffer zu sagen geben? Wahrscheinlich besteht der Großteil des Buches aus Rezepten.“ – das waren meine Befürchtungen, als ich dieses Buch in der Vorschau des Mandelbaum-Verlages sah. Aber da ich einige Titel aus dessen Reihe „feine gourmandisen“ kenne und sehr schätze, habe ich es trotzdem bestellt, die Kochbuchabteilung hat ja gerne auch ein paar Besonderheiten.
Was soll ich sagen: Es hat mich restlos begeistert! Das Buch beginnt mit einer ausgiebigen Darstellung von Pfeffer im Laufe der Geschichte – ob als Beigabe in Mumiengräbern, als Heilmittel, zur Selbstdarstellung oder als Zahlungsmittel, Pfeffer hat eine vielfältige Kariere vorzuweisen. Nathalie und Konrad Pernstich verstehen es, eine Art Kultur- und Weltgeschichte anhand des Pfeffers zu erzählen und das sehr leichtgängig. Wobei sie nicht an Informationen sparen, sondern alles einfach locker erzählen. Danach folgen die einzelnen Pfefferarten und danach Gewürze, deren Namensteil „Pfeffer“ eigentlich nicht korrekt ist. Alle werden jeweils kurz beschrieben, danach botanisch und mit Anbau bzw. Produktion, nach Aroma sowie Verwendung vorgestellt. Erst im letzten Drittel sind dann Rezepte zu finden; und auch hier beeindruckt die Vielfalt und Genauigkeit.
„Pfeffer“ ist ein Buch für an der Welt-Interessierte und für Menschen, die gerne essen - das gerne Kochen kommt mit der Lektüre, glaube ich.
(Meine Lieblinge sind übrigens die Kampot-Pfeffersorten!)
Mandelbaum Verlag, 978-3-85476-940-8, € 28,00
Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte
Lesen. Denken. Reden.: Das ist der Slogan des Deutschen Sachbuchpreises, für den Meron Mendels Buch, zusammen mit sieben anderen Büchern, nominiert ist. Gelesen habe ich es, mit dem Denken werde ich lange nicht aufhören. Wie es mit dem Reden wird, hängt sicherlich davon ab, ob sich die entsprechenden Situationen ergeben.
Meron Mendel ist in Israel geboren, hat dort studiert und die Militärzeit abgeleistet, seit zwanzig Jahren lebt er in Deutschland; er leitet die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Sein Buch hat er in vier Kapitel eingeteilt, die da lauten: die Debatte um die Staatsräson / der BDS-Streit / die Linke und der Nahostkonflikt / die Erinnerungskultur und ihre Kritiker. Sehr genau analysiert er in diesen Kapiteln Positionen und Stellungnahmen ganz unterschiedlicher Gruppierungen und Parteien und zeigt auf, ob und inwiefern Antisemitismus deren Grundlage ist. Immer wieder verlangt er uns Leser*innen ab, in komplexen Zusammenhängen zu denken. Und er arbeitet aus, wann und wie unsere Positionierung mehr mit uns selbst und Deutschland zu tun hat, als mit dem Staat Israel. Das alles stellt der Autor sehr klug und anschaulich dar – gerade deshalb bleibt viel zu überdenken. Vor allem ist Mendel sehr weit davon entfernt, Pauschalurteile oder klassische Gut-Böse-Einteilungen vorzunehmen. Und das ist für die durchaus hitzige Debatte um Israel und die Palästinenser (leider) ziemlich einzigartig.
„Über Israel reden“ ist ein ausgesprochen wichtiges Buch!
Kiepenheuer & Witsch, 978-3-462-00351-2, € 22,00
Jasmin Schreiber: Schreibers Naturarium
Wollen Sie wissen, wann und wie Igeln geholfen werden muss? Warum der schlechte Ruf von Tauben falsch ist? Wie wichtig Streuobstwiesen sind? Oder auch, warum Honigbienen weniger gefährdet sind, als angenommen?
Dann ist dieses Buch genau das richtige Buch für Sie. Eingeteilt in die zwölf Monate des Jahres nimmt Jasmin Schreiber uns mit in die Natur. Manchmal ins freie Feld, manchmal in den Wald, aber genauso auch auf den Balkon oder in den Garten. Sie berichtet, was im jeweiligen Monat grundsätzlich geschieht, dann geht sie näher auf Tiere und Pflanzen ein. Und noch tiefer steigt sie bei Herzensthemen ein: Die vier Fragen oben beantwortet sie zum Beispiel oder auch, warum Wildpflanzen-Saatmischungen sehr oft keine gute Wahl sind. Ihre große und schon ein ganzes Leben währende Liebe zu Insekten nimmt einigen Raum ein – wobei das für die artenreichste Klasse der Tierwelt durchaus angemessen scheint. Alles, was sie beschreibt, ist wissenswert und ihre Tipps sind absolut nachvollziehbar. Und durchaus auch praktisch, oder hätten Sie gewusst, dass man Kröten besser nicht anfassen sollte? Schreiber duzt ihre Leser*innen und der Ton ist ab und an flapsig: Aber selbst ich, die ich diese Art der Ansprache nicht sooo mag, nehme das gerne in Kauf. Denn es steckt einfach unglaublich viel Wissen in diesem Buch und man wird mit jeder Seite schlauer. Und zwar über Dinge, die nur auf den ersten Blick alltäglich scheinen.
Das Buch gehört in jeden Haushalt, finde ich.
Eichborn Verlag, 978-3-8479-0136-5, € 26,00
Aurélien Davroux: Wächst fast ohne Wasser
450 trockenheitstolerante Pflanzen für jeden Standort – so ist der Untertitel des vorliegenden Gartenbuches. Ja klar, denkt man, die letzten Jahre waren sehr trocken, da sind in dieser Hinsicht tolerante Pflanzen sicherlich eine gute Idee. Der Autor weitet jedoch unseren Blick: Ihm geht es auch um Trockenheit, die durch den Standort und die Nachbarbepflanzung entsteht. Darüber hinaus erklärt er, wie auch Bodenbeschaffenheit und -pflege, wie das Miteinander von Pflanzen und ihren Wurzelpilzen die Bewässerungsbedürfnisse verändern. Das alles ist mit viel Fachkenntnis geschrieben und übersichtlich strukturiert, denn Aurélien Davroux ist ein Mann der Praxis. Seit 15 Jahren testet er in seinem Versuchsgarten das Verhalten und die Vergesellschaftung von 1500 Arten und Sorten ohne den Einsatz von Pestiziden, dabei legt er Wert auf minimierte Pflanzenpflege. Das macht ihn auch für Kommunen zum begehrten Ratgeber.
In diesem Buch teilt Davroux uns, sortiert nach schattigen, halbschattigen und sonnigen Standorten, seine Ergebnisse mit. Jede Pflanze ist abgebildet, Blütezeit, Größe, Wuchsform, Bodenvorliebe – all das ist notiert und hilft bei der Suche nach der geeigneten Bepflanzung. Und weil sehr viele Pflanzen sowieso erst im Spätsommer oder Herbst eingepflanzt werden sollten (auch das erklärt er sehr genau), haben wir tatsächlich noch Zeit, dies alles in Ruhe zu planen …
Ulmer Verlag, Übersetzung: Sabine Hesemannn, 978-3-8186-1359-4, € 30,00
Erna Pinner: Curious Creatures
Wer die Büchereule bekommt, unseren Newsletter, der zweimal im Monat erscheint, der hat den Namen Erna Pinner schon gelesen. Denn im Januar habe ich auf eine Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt hingewiesen – sie heißt „Zurück ins Licht“ – die vier Künstlerinnen vorstellt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt waren. Alle vier entstammen der jüdischen Gemeinde und sind entweder ins Exil gegangen (Erna Pinner und Ruth Cahn) oder wurden im dritten Reich ermordet (Rosy Lilienfeld und Amalie Seckbach). Meist gibt es nur wenige Werke, vieles ist von den Nazis zerstört worden, aber ein Besuch im Museum ist wirklich hochinteressant.
Erna Pinner bildet unter diesen vier Frauen insofern eine Ausnahme, als sie auch im Exil sowie nach dem Krieg noch künstlerisch tätig war. In jungen Jahren war sie viel gereist und ihrem Publikum durch illustrierte Reiseberichte bekannt. Mich begeistert, dass es ihr damals schon wichtig war, die westliche Brille abzunehmen, es ihr gelang, die indigene Bevölkerung der bereisten Länder nicht herabwürdigend darzustellen – so wie das fast alle vor ihr taten. Während des zweiten Weltkriegs und später war sie vor allem für ihre Naturbeobachtungen bekannt.
Seit November gibt es nun, versehen mit einem sehr guten Nachwort von Barbara Weidle, eine fantastische Neuauflage: „Curious Creatures – Seltsame Geschöpfe der Tierwelt“. In vierzehn Kapiteln erzählt sie lakonisch und faktentreu von den erstaunlichsten Tieren, von deren ungewöhnlicher Nahrungssuche bis hin zu eigentlich artfremden Bewegungsabläufen: Und überall sind ihre detailreichen und interessanten Illustrationen mit dabei.
Weidle Verlag, 978-3-949441-05-9, € 30,00
„Die große Marie Marcks“
Es war meine allererste Lesung, ich war noch keine zwanzig und meine Freundin meinte, da müsse man hin – ich hatte keine Ahnung, wer diese Marie Marcks war. Karikaturen gab es in meiner Kindheit bestenfalls im Darmstädter Tagblatt, und die waren dort sicher nicht von einer Frau. Und schon gar nicht von einer, die für ihren furchtlos-feministischen und wirklich witzigen Stil bekannt war.
Beim letzten Umzug habe ich viele Bücher abgeben: Die beiden „Autobiographischen Aufzeichnungen“ sind geblieben. Immer mal wieder stecke ich die Nase hinein und bin vollkommen entzückt, wie man so wahrhaftig und gleichzeitig so über-den-Dingen-stehend Alltag abbilden kann. Marie Marcks Aufzeichnungen erzählen vom Leben als Kind in Berlin vor und während des zweiten Weltkrieges, vom sich-Verlieben und dem schleichenden Entlieben, von Musik, dem Zeichnen und dem Leben an sich. Und ja, meine Exemplare sind ein bisschen abgeliebt.
Im Verlag Antje Kunstmann ist nun im letzten Jahr eine zweibändige Jubiläumsausgabe erschienen, ein Band „Autobiographische Aufzeichnungen“ und ein Band mit „Karikaturen und Bildergeschichten“ gemeinsam im Schuber. Der Verlag schreibt: „Ihr besonderer Blick auf die Umwelt und die Ungleichheit, auf Männer und Frauen, auf Familie, Erziehung und Bildung erzählt, wie es war und wie es sein könnte, ja müsste“ – und das ist, auch wenn mit dieser Jubliäumsausgabe an Marie Marcks 100. Geburtstag erinnert wird, erstaunlich modern und erfrischend!
Verlag Antje Kunstmann, 978-3-95614-520-9, € 58,00
Oksana Sabuschko: „Die längste Buchtour“
Am 23. Februar 2022 packt die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko einen kleinen Handkoffer, sie will in Warschau ihr neuestes Buch vorstellen. Weil sie drei eng getaktete Tage vor sich hat, nimmt sie keinen Laptop mit, es wird eh‘ keine Zeit fürs Schreiben sein. Der 24. Februar 2022 beginnt dann in den frühen Morgenstunden mit der Meldung, dass Russland Krieg in der Ukraine führt. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht Stellung beziehen soll, Erklärungen abgeben, Fragen beantworten – ihr Standpunkt gegenüber Putins Russland ist seit Jahren bekannt, nun findet sie Gehör. Schon bald wird ihr klar: Dass, was sie in Interviews erklären kann, ist viel zu wenig, um sich dem komplexen Thema Ukraine und Russland auch nur annähern zu können. Sie tut, was Schrifsteller*innen in diesem Fall tun – sie kauft einen neuen Laptop und beginnt, alles ausführlich darzustellen.
Im Grunde besteht „Die längste Buchtour“ aus drei sich ergänzenden Essays: „Die Frau mit dem Koffer“ beschreibt die ersten drei Monate nach der russischen Invasion aus sehr persönlicher Sicht, „Geschichte eins – die dreißigjährige Geschichte“ und „Geschichte zwei – die dreihundertjährige Geschichte“ gehen dann jeweils zurück und listen die ukrainische Historie in Wechselwirkung mit der russischen ausführlich auf. Das ist nicht leicht zu lesen, weder sprachlich noch inhaltlich (da ist es echt starker Tobak), aber es hilft verstehen, was gerade passiert.
„Die Stärke eines Landes, einschließlich seines Militärs, besteht aus MENSCHEN. Aber um eine echte Kraft zu sein, müssen sie sich zunächst weigern, „Material“ zu sein. Und das nicht nur auf dem Schlachtfeld.“ Wirklich kluge Sätze fast am Ende dieses Buches, quasi die Quintessenz …
Literaturverlag Droschl, Übersetzung: Alexander Kratochvil, 978-3-99059-121-5, € 22,00
unsere Sachbuch-Lieblinge in 2022:
Tobias Roth und Moritz Rauchhaus: Die Speise- und Wunderkammer der exzentrischen Küche
Der Verlag Das kulturelle Gedächtnis hat es sich ein stückweit zur Aufgabe gemacht, Texte und Informationen der letzten vier-, fünfhundert Jahre zugängig zu machen. Nicht im Sinne von wissenschaftlichen Zusammenstellungen oder Vollständigkeit – eher in einer Art Puzzle, das die Vielfalt der Verschriftlichungen offenbart. Das ist insofern klug, als es für uns Leser*innen tatsächlich sehr unterhaltsam ist und die Chancen also erheblich steigen, dass das alles auch wirklich gelesen wird.
In diesem Jahr nun haben sie sich der Küche zugewandt. Und so blättern wir durch ein abwechslungsreiches Sammelsurium aus Rezepten und Anleitungen (von Zebuhöcker bis Strauss), Menus (von der rundesten Geburtstagsfeier bis zum Gastmahl des Trilmalchio), Glossaren (von Schnittformen des Gemüses bis Geht Liebe durch den Magen) und vielen anderen Rubriken. Die Einzelbeiträge sind selten länger als eine Seite, manchmal illustriert – und fürs 21. Jahrhundert ausgesprochen skurril. Obwohl manche noch gar nicht alt sind, der Zebuhöcker zum Beispiel findet sich in einem deutschen Kochbuch aus dem Jahr 1970. Oft sind die Beiträge von den beiden Herausgebern kommentiert, das ist zur Einordnung durchaus hilfreich. Es gibt auch Texte, die in anderer Hinsicht verwundern: Die Kunst, Torten besonders zu gestalten, mit Aufbauten und Farben zum Beispiel, die hätte ich als sehr jung angesehen. Tatsächlich gab es aber Anfang des 19. Jahrhunderts schon einen Konditor, der architektonische Tortenwunder buk. So reiht sich ein interessanter Beitrag an den nächsten lustigen und danach kommt wiederum einer, der für unsere Zungen eher unangenehm scheint …
Diese Wunderkammer ist nichts fürs stundenlange Lesen am Stück. Aber sie ist genau das richtige für kleine, feine Häppchen zwischendurch, gerne auch an Festtafeln vorgelesen.
Verlag das kulturelle Gedächtnis, 978-3-946990-65-9, € 28,00
Germán AczeL: Die schönsten Tore aller Zeiten
Ich fang‘ mal mit dem Ende an: TOP irreguläre Tore heißt dieses Kapitel, und es listet genau ein Tor auf - „die Hand Gottes“, das selbst völlig Fußballunwissende kennen. AczeL schreibt dazu: „Mit diesem unübertrefflichen Tor können wir das Kapital ‚Irreguläre Tore‘ so stehen lassen.“ Vorher aber gibt es sieben andere Kapitel, wovon das erste das umfassendste ist. Und dieses beginnt ebenfalls mit einem Tor von Diego Maradona – dem Tor des Jahrhunderts, gefallen am 22. Juni 1986 im WM-Viertelfinale Argentinien gegen England, das mit 2:1 endete. Das Buch listet es jedoch nicht nur auf, sondern es gibt bei allen 221 Toren eine Illustration, der man sowohl Aufstellung als auch Ablauf entnehmen kann. Und alle Tore werden, meist ziemlich launisch, auch kurz erklärt. Oft bleiben (vielleicht auch nur für die Fußballunwissenden …) nach der Erklärung offene Fragen, das Buch öffnet also die Tür in die Recherche.
Und damit kommen wir zu dem Warum. Warum empfehle ausgerechnet ich (eine völlig Fußballunwissende – von Maradona mal abgesehen) ein Buch über Fußball? Das hat zwei Hauptgründe: Zum einen enthält es eine weltweite Auswahl und alles, was ich im Anschluss recherchierte, bestätigte die Korrektheit. Zum anderen ist es ein großartiges Buch für kleine und große Nichtleser*innen. Wegen des Themas, wegen des Humors, aber auch wegen der Zeichnungen. Davon abgesehen bin ich jetzt um einiges schlauer und gut unterhalten wurde ich auch.
Edel Verlag, Illustration: Deluxe, 978-3-98588-020-1, € 19,95
Ernst Strouhal & Christoph Winder: Böse Briefe – Eine Geschichte des Drohens und Erpressens
Auf dem Cover ist der Titel folgerichtig mit ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben dargestellt: Sicherlich ist das bei vielen der erste Gedanke, wenn der Begriff „Erpresserbrief“ fällt, diese Darstellung ist als typisches Bild ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Dass sie in Wahrheit gar nicht oft vorkommt, was stattdessen Verwendung findet – dem widmet sich das zweite Kapitel des vorliegenden Buches. Voran geht eine Art Einleitung und die anschließenden sechs Kapitel (von 3 Terror durch Sprache bis 8 Über den Umgang mit Gespenstern) beleuchten diese Art Briefe hinsichtlich vieler Aspekte und über Ländergrenzen hinweg. Dabei ist die jeweilige Einordnung klug und gut lesbar, es gibt eine Vielzahl von (kommentierten) Beispielen.
„Böse Briefe“ ist kein erbaulicher Bildband im eigentlichen Sinn. Die abgedruckten Beispiele und die dazugehörigen Geschichten sind teilweise brutal und menschenfeindlich, andere sind sexistisch und ja, einige auch unterhaltsam. Aber: Trotzdem ist es lesenswert und interessant, es ist gerade nicht voyeuristisch, sondern so neutral es eben geht. Die Erkenntnisse daraus ergänzen viel von dem, was ich über Hasspostings im Netz oder auch #meetoo weiß – und das macht das Buch relevanter, als es mir lieb ist. (Wenn es nicht von Verlagsseite her um die Hälfte heruntergesetzt worden wäre, hätte ich es vermutlich weder eingekauft noch gelesen. Ein echter Verlust.)
Brandstädter Verlag, 978-3-7106-0152-1, € 17,99
Soledad Romero Marino / Montse Galbany: Geniale Fehler
„Von glücklichen Unfällen & großartigen Missgeschicken“, so lautet der Untertitel dieses Sachbuchs. Und weiter geht es in der Einleitung: „Trotz ihres schlechten Rufs spielen Fehler beim Lernen, in der Forschung und bei kreativen Schaffensprozessen eine bedeutende Rolle. Aus Fehlern wird man klug, durch sie entwickelt sich die Menschheit weiter.“
In der Folge begegnen uns die unterschiedlichsten Dinge: Kaffeebohnen, die ein Hirte in Äthiopien vor anderthalb Jahrtausenden achtlos ins Feuer wirft, weil sie ungenießbar sind. Salz, Schwefel und Holzkohle, im China vor zwölfhundert Jahren ein beliebtes Mittel zum Haltbarmachen von Lebensmitteln. Hauchdünn geraspelte Kartoffeln, eine Menge Salz und ein ungnädiger Koch. Und viele gelbe Enten aus einem aufgebrochenen Container. Kaffee, Feuerwerk, Chips und eine Karte der Meeresströmungen – das sind die Ergebnisse dieser Unfälle und Fehlversuche. Im Buch gibt es noch viele andere, vom ersten chemischen Farbstoff bis zum Sekundenkleber.
Das alles ist spannend und nachvollziehbar illustriert und wegen der kurzen „Häppchen“ auch für jüngere Grundschulkinder gut geeignet. Mir gefällt außerdem gut, dass es Mut macht, sich gedanklich und tatsächlich aus normalen Mustern herauszubewegen – das hilft im ganzen Leben, finde ich …
Knesebeck Verlag, Übersetzung: Ursula Bachhausen, 978-3-957285-46-1, € 16,00
Sergio del Molino: Leeres Spanien
Sie hören das Wort „Spanien“ – welche Bilder entstehen in Ihrem Kopf? Strände und Meer, Städte voller Menschen, altehrwürdige Bauten? Oder eher Kargheit, einer Wüste nicht unähnlich, ständiger Wind, Winterkälte und wenige Menschen? Letztendlich stimmt beides: Aber der etwas größere, karge Anteil ist weit weniger bekannt. Diese Gebiete waren schon immer spärlich besiedelt, die Entwicklungen seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben die Dörfer jedoch in einer kaum vorstellbaren Weise zu Geisterdörfern gemacht. In allen europäischen Ländern hat es Umsiedlung vom Land in die Stadt gegeben – und doch nimmt Spanien eine Sonderrolle ein, dergestalt, dass nirgendwo so große Unterschiede bezüglich der Einwohnerzahl pro Quadratkilometer sind, wenn man Land und Stadt vergleicht.
Diesem Umstand und dem dadurch entstehenden Lebensalltag geht Sergio del Molino in seinem Essay auf den Grund. Er verwebt dabei Fakten und Literatur, Vergangenheit und europäisches Leben zu einem wunderbar lesbaren und hochinteressanten Buch – jedes Kapitel setzt dabei einen anderen Schwerpunkt.
„Obwohl ich viele Quellen zu Rate gezogen habe, sehe ich mich keiner wissenschaftlichen Methode im Besonderen verpflichtet, wie ich auch auf keinem der dazugehörigen Gebiete eine Spezialausbildung vorzuweisen habe. Ich schreibe mit der glücklichen Unbekümmertheit des Dilletanten.“ Und wir lesen es nicht weniger beglückt und lernen dabei Spanien ganz anders kennen.
Wagenbach Verlag, Übersetzung: Peter Kultzen, 978-3-8031-3721-0, € 30,00
Shelly Kupferberg: Isidor. Ein jüdisches Leben
Isidor gab es wirklich. Er war der Urgroßonkel von Shelly Kupferberg, ein aus Galizien und bettelarmen Verhältnissen stammender Mann, der in Wien Rechtsanwalt wurde (und noch so einiges, manchmal nicht ganz Astreines 'drehte'). In den 1920er und 1930er Jahren führte Isidor ein großbürgerliches, wirklich reiches, gesellschaftlich anerkanntes Leben, die ganze Wiener Prominenz war bei ihm zu Gast. Er starb kurz nach dem Einmarsch der Nazis in Wien, kurz nachdem ihn die Erkenntnis traf, dass ihm diese hart erarbeitete Existenz genommen werden würde, an einer Art gebrochenem Herzen.
Shelly Kupferberg ist eigentlich Journalistin und erzählt Isidors Leben überhaupt nicht unterkühlt, aber auch nicht gefühlig. Das Buch hat verschiedene Erzählebenen: Ihre eigene "Ermittlungsarbeit" um dem Großonkel überhaupt auf die Spur zu kommen ist eine davon. Eine weitere ist die des Neffen Walter, der Kupferbergs Großvater war, Walter hat es 1938 unter noch nicht allzu großen Beschwernissen nach Palästina geschafft - und seine Erzählungen waren es vor allem, welche die Autorin veranlassten, Isidor und der Wiener Zeit und damit auch den Nazis nachzuspüren. „Isidor“ wünsche ich viele Leser*innen: Weil wir immer wieder erfahren müssen, wie das alles passiert konnte und auch, weil es wichtig ist, vom vielfältigen jüdischen Leben vor dem Holocaust zu erfahren.
Diogenes Verlag, 978-3-257-07206-8, € 24,00
Gunda Trepp: Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus
Waren Sie schon einmal im jüdischen Museum in Frankfurt? Oder in einem anderen Museum? Einer Synagoge? Wenn dem so ist, dann wissen Sie, dass dort Personenschützer stehen, man wird durchgecheckt wie am Flughafen. Ja, das hat Gründe. Und ja, es ist beschämend, dass diese Gründe bestehen. In einer Studie des Jüdischen Weltkongress‘ aus dem Jahr 2019 stimmten 27 % der Befragten judenfeindlichen Äußerungen zu, in einigen Schulbüchern waren bis vor sehr kurzer Zeit judenfeindliche Symbole gedruckt, und wenn die Namen Soros oder Rothschild genannt werden, dann ist der Hintergrund meist, rücksichtslose Geldmacherei aufzurufen. Das alles ist so tief in unserem Alltag verwurzelt, dass wir es sehr oft nicht gleich als Antisemitismus entlarven – obwohl es nichts anderes ist.
Gunda Trepp legt all das mit zahllosen Beispielen offen. Von „Ich kenne niemanden, der ein Problem mit Juden hat.“ im ersten Kapitel (dessen Überschrift „Das wird man ja wohl sagen dürfen“ leider eine oft benutzte Wendung ist) bis „Der Wunsch: Ein offenes jüdisches Leben führen zu können“ im letzten Kapitel widerlegt sie falsche Argumente. Alles eher kurz und knapp, dafür sehr gut lesbar und verständlich; jedes Kapitel schließt mit weiterführenden Leseempfehlungen zum Thema. Vor allem ist es Trepp ein Anliegen, Wissen über das Judentum und jüdisches Leben zu vermitteln – im Vorwort schreibt sie: „Ich gehe davon aus, dass die Realität und das Wissen immer noch die belastbarsten Fundamente darstellen, mit denen sich etwas anfangen und auf denen sich etwas aufbauen lässt.“ Denn ein gutes Leben mit- und nicht gegeneinander, das ist leider wirklich etwas völlig Neues, immer noch.
Wbg Paperback, 978-3-534-27418-5, € 20,00
Arabella Sicardi / Sarah Tanat-Jones: Queer Heroes – 53 LGBTQ-Held*innen
„Der beste Rat, den ich jemals bekommen habe, lautet: Sei der Mensch, den du gebraucht hättest, als du jung warst.“ Mit diesem Satz beginnt Arabella Sicardi, die in den Vereinigten Staaten eine bekannte Bloggerin und Mode-Kolumnistin ist, ihr Buch. Sie schreibt, dass es ihr enorm geholfen hätte, damals andere Lebensmodelle zu kennen als die „üblichen“. Dass sie bestenfalls in Fantasy-Romanen Vorbilder und vorbildliches Miteinander gefunden hätte, ihr Alltag aber von Mobbing bestimmt gewesen wäre. Mit Blick auf ihre Kindheit und Jugend hat sie dieses Buch konzipiert und 53 Menschen ausgewählt, die mit ihrem Leben, mit ihrem Mut zum Anderssein diese Lücke füllen. Sie zeigen auf, wie vielfältig Menschen sind und wie gut es ist, für sich selbst einzustehen. Dabei sind es nicht nur die „erwartbaren“ Personen wie Freddy Mercury oder Ellen DeGeneres – sondern auch Menschen, von denen wir in Deutschland noch nichts oder wenig gehört haben. Bayard Rustin zum Beispiel war ein Weggefährte von Martin Luther King Jr., Khalid Abdel-Hadi hingegen hat die erste Plattform der arabischen Welt für die LGBTQ-Community erschaffen: Beide Lebensgeschichten sind unglaublich inspirierend. Außerdem lesen wir von Marlene Dietrich, Michelangelo und einigen anderen, die „einfach“ durch ihre Art zu Leben für Vielfalt einstehen oder einstanden.
Keiner der Texte ist länger als eine halbe Seite. Und trotzdem ist dieses Buch überzeugend und wichtig.
Prestel Verlag, Übersetzung: Petra Koob-Pawis, 978-3-7913-7437-6, € 20,00
Empfehlung von Praktikantin Julia:
Kurt Krömer: Du darfst nicht alles glauben, was Du denkst.
Der Comedian Kurt Krömer ist schon lange bekannt in Deutschland, unter anderem durch Serien wie „Chez Krömer“ oder „Last one Laughing“. Nun veröffentlichte er seine Autobiographie, in der er über seine psychischen Erkrankungen berichtet und seinen Weg der Genesung.
Kurt Krömer schreibt von seinem Leben mit schwerer Depression, dass er nie erkannt hatte, was ihn belastete und wie er versuchte die Fassade aufrecht zu halten. Auch berichtet er von seiner Alkoholsucht und seiner Zeit in der Klinik auf eine ernste, aber auch lustige Art. Er schrieb dieses Buch, um den Umgang mit Depressionen öffentlich zu machen und den Leuten zu helfen, die in einer ähnlichen Situation sind, wie er es war. Das Buch ist kein Ratgeber, er möchte Aufmerksamkeit schaffen und aufklären. Der Autor lässt uns tief in seine Gefühlswelt blicken, teilt seine negativen Erlebnisse mit den Lesern, aber er schreibt auch über den Weg aus seiner Depression und Sucht.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, 978-3-462-00254-6, €20,00
Marieluise Beck (Hg.): Ukraine verstehen – Auf den Spuren von Terror und Gewalt
„Stalinistische Repressionen“, „Besatzungsmächte im zweiten Weltkrieg“ und „Erinnerung und Verantwortung“ – so heißen die drei Kapitel des vorliegenden Buches. Es ist im Oktober 2021 erschienen, die Annexion der Krim durch Russland bestand, aber ein Krieg in der Ukraine schien zumindest den meisten von uns unmöglich. Wobei Befürchtungen bezüglich kriegerischer Handlungen sich wie ein roter Faden durch dieses Buch hindurchziehen … Heute ist der Krieg Realität. Wenn man verstehen möchte, warum die Ukraine ein so wichtiges Land ist, warum Putin immer wieder die „Nazi-Karte“ spielt, wenn man auch den Anteil Hitler-Deutschlands (und damit durchaus auch deutsche, unsere Verantwortung) begreifen möchte – dann ist „Ukraine verstehen“ eine gute Lektürewahl. In über 20 Kurzbeiträgen, zum Teil sind es Mittschnitte von Reden, zum Teil Auszüge aus historischen Abhandlungen, zum Teil extra verfasste Aufsätze, wird die Geschichte der Ukraine durch das gesamte zwanzigste Jahrhundert hindurch beleuchtet. Das ist alles andere als einfach zu lesen, auch, weil man die jetzigen entsetzlichen Geschehnisse immer mitdenkt. Aber notwendig für ein grundlegendes Verständnis der Forderungen nach Eigenständigkeit des ukrainischen Volkes – notwendig ist es unbedingt.
Die beiden Gründer des Zentrum Liberale Moderne (LibMod) sind Politiker der Grünen, man könnte eine „ideologische Brille“ unterstellen. Und tatsächlich, wenn man die dargestellten Fakten gegenprüft, gibt es für manche Dinge eine weniger aufgeladene Wortwahl (vergleiche Holodomor = Genozid), sozusagen eine mildere Lesart. Die Fakten selbst finden sich aber überall.
Ibidem Verlag, LibMod, Reihe „Ukrainian Voices“ Nr. 16, 978-3-8382-1653-9, € 14,90
Heather Camlot / Serge Bloch: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin
Picasso malte ein hochbeeindruckendes Bild gegen den Bürgerkrieg in Spanien. Desmond Doss zog ohne Waffe in den Krieg und rettete viele Kameraden. Charlie Brown nahm die Regeln ernst, keine wehrlosen Gegner anzugreifen und gab stattdessen Geleit zur Grenze. Reza Shizari entwickelt Videospiele, die realistisch sind und Empathie für die Gegenseite wecken. Und Baruani Ndume machte schon als Teenager Radio für Kinder, um ihnen ihre Rechte zu erklären und im Alltag zu helfen. Das sind nur fünf Beispiele aus vorliegendem Buch.
„15 wahre Geschichten gegen Krieg, Gewalt und Machtmissbrauch“ – so steht es im Untertitel. Es sind jeweils nur kurze Geschichten, eine Seite, die gegenüberliegende Seite ist entsprechend illustriert. Die Kürze tut der Kraft, die in den Geschichten steckt, jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil, dadurch bleibt genug Raum für die eigene Fantasie: Was würde ich tun? Faszinierend ist auch, wie vielfältig die hier beschriebenen Menschen für Frieden und Freiheit einstanden oder noch einstehen und wie vielfältig darum ihre Aktionen sind. Stets spiegeln sie die Persönlichkeit, oft ist ein künstlerisches Element dabei. Vor allem aber tun alle hier beschriebenen Menschen Dinge, die zutiefst menschlich sind. Empfohlen wird das Buch ab 8 Jahren – ich möchte es auch jedem Erwachsenen in die Hand drücken.
Dressler Verlag, Übersetzung: Fabienne Pfeiffer, 978-3-7915-0170-3, € 14,00
Ronen Steinke: Antisemitismus in der Sprache
Eine Diskussion im Internet, es ging um die Frage, wie man mit dem Schuldigen umgehen solle – ich weiß gar nicht mehr, wessen er sich schuldig gemacht hatte – durchaus gepflegte Kommentare, keine Hass-Stimmung. Und mittendrin das Satzfragment „über die Regeln des ‚Auge um Auge‘ sind wir doch lange hinweg“. Der Schreiber hat das durchaus nett gemeint, er wollte eher milde Strafen aufrufen. Nur: Heißt das nicht, dass wir (Christen?) über die aufgerufenen Regeln Jahwe „hinweg“ sind?
Mein ungutes Gefühl bei dieser Formulierung und meine Schreiben dagegen – das wäre heute, nachdem ich „Antisemitismus in der Sprache“ gelesen habe, klarer ausgedrückt. Ronen Steinke hat genau das auseinandersortiert: Zum einen, dass „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ in der Bibel die Bedeutung von gelungenem Ausgleich und gerade nicht von brutaler Rache hatte. Und zum anderen, dass dieses „darüber hinweg sein“ selbstverständlich das Christentum als die weiterentwickelte, bessere Religion darstellt. Das ist allerdings nur ein Punkt in dem vorliegenden Buch. Es gibt noch viele, viele andere – zum Beispiel jiddische Worte, die im deutschen Sprachgebrauch eine negative Konnotation haben (Mischpoke) oder eindeutig negativ besetzt sind (wie etwa mauscheln).
„Warum es auf die Wortwahl ankommt“, so lautet der Untertitel, und genau das arbeitet der Autor hervorragend aus.
Duden Verlag, 978-3-411-75679-7, € 8,00
Frédéric Valin: Pflegeprotokolle
Im Frühjahr 2020 war in ganz Deutschland „flatten the curve“, die Kurve abflachen, das große Ding. Gleichzeitig standen „wir“ auf den Balkonen und klatschten: Für die Pflege und alle Medizinberufe. Es gab Versprechungen von Coronaprämien, höheren Löhnen und überhaupt mehr Anerkennung. Wenn es ins Konzept passte, gab es sogar Ärztinnen, Intensivpfleger, Krankenschwestern, die in Talkshows eingeladen wurden – wobei das Hineinpassen ins Konzept vielleicht auch mein zynischer Blick auf die Dinge ist. Aber tatsächlich gab es in den Medien viele neue Experten, Statistiker*innen, Virolog*innen, Ärzt*innen – jedoch kaum Pflegekräfte und Sozialarbeiter*innen, kaum jemand von denen, die tatsächlich vor Ort das Ding am Laufen halten.
Frédéric Vilan, selbst über Jahre hinweg in einer Behinderteneinrichtung beschäftigt und gleichzeitig Autor, hat genau das gemacht: 21 Menschen aus pflegenden und sozialen Berufen ihre Geschichte erzählen lassen. Er hat genaustens notiert – und so können wir in den „Pflegeprotokollen“ lesen, was „der Pflege“ wichtig ist. Sie erzählen von strukturellen Problemen durch die Vorgaben der Arbeitgeberseite, aber auch von Angehörigen mit überzogenen Forderungen oder von nicht vorhandenen aber notwendigen Institutionen. Manche beschreiben sehr genau, welche Änderungen notwendig sind. Eigentlich will man die „Pflegeprotokolle“ den Politikmachenden in diesem Land zur Pflichtlektüre überlassen. Und sonst auch jedem in die Hand drücken.
Verbrecher Verlag, 978-3-95732-497-9, € 18,00