unsere gesammelten Biografien:
Anja Reich: Simone
Als Simone zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage anrief, hatte Anja Reich zum zweiten Mal keine Zeit: Erst Kindergeburtstag, dann Abgabeschluss für einen Artikel. Simone wollte sie für sofort zu einem Besuch animieren, Anja versprach den Besuch für die kommende Woche. Am Abend dann der Anruf von Simones Bruder: „Mone ist tot.“ Sie hatte ihrem Leben ein Ende gesetzt. Das war für Anja Reich so unfassbar, dass sie lange Zeit nicht in der Lage war, sich der Erinnerung zu stellen, ihre Freundschaft im Alltag zu verorten, die Trauer kommen zu lassen. Irgendwann hielt der Deckel nicht mehr dicht auf der Kiste mit dem Vergangenen. Es war an der Zeit, herauszufinden, was passiert war – Anja Reich begann zu recherchieren.
An dieser Recherche lässt sie uns mit dem sehr persönlichen Buch „Simone“ teilhaben. Der Beginn ihrer Freundschaft liegt Mitte der 80er Jahre im Osten Berlins, sie hatte über viele Jahre Bestand. Mal haben sie intensive Zeiten miteinander, mal ist es längere Zeit still zwischen ihnen. Und über allem liegt ein gesellschaftlicher Umbruch, der für Menschen aus dem Westen (mich eingeschlossen) kaum fassbar ist. Anja Reich beschreibt das alles intensiv und kundig und bleibt dabei sowohl kritisch als auch empathisch. „Simone“ ist kein leichtes Buch – aber ein wichtiges. Auch, wenn man die Wendezeit und die Jahre danach besser verstehen möchte.
Aufbau Verlag, 978-3-351-03985-1, € 23,00
Erich Hackl: Am Seil
Eine Heldengeschichte – so hat Erich Hackl diese Erzählung, viel mehr ist es mit seinen knapp 120 Seiten nicht, überschrieben. Den Helden, um den es in der Geschichte geht, diesen Helden und seine Heldentat, die gab es wirklich: Reinhold Duschka freundete sich in den 1920er Jahren mit Rudolf Kraus an, der einige Zeit später Vater des Mädchens Lucia werden sollte. Auch wenn die Mutter, Regina Steinig, Kraus nicht heiraten wollte, fühlte sich Duschka offensichtlich der Familie verbunden. Zumal er selbst Regina als großherzige Frau kennengelernt hatte. Bei den Treffen in Reginas Küche servierte sie zu den Gesprächen über Alltägliches und Politisches jedem ein Schälchen Maisgrießpudding, auch wenn der Geldbeutel alles andere als gut gefüllt war. Nach wenigen Jahren, in denen es Regina und Lucia besser ging, kam Hitler auch in Österreich an die Macht. Schon im September 39 wurde Reginas Vater von zwei Polizisten abgeholt, ein Telegramm des Inhalts, dass er verstorben wäre, kam nur einen guten Monat später. Das war der letzte Anstoß, den Regina brauchte, um für sich und ihre Tochter ein Versteck zu suchen – und in Reinhold Duschkas Werkstatt auch zu finden …
Erich Hackl erzählt diese wahre Geschichte in nüchternem Erzählstil. Seine Personen sind trotzdem alles andere als skizzenhaft – wir lesen von realen Menschen und haben sie wirklich bildlich vor Augen. Auch wenn von der Gefahr die Rede ist, vom Verbrechen an so vielen Menschen, von Unmenschlichkeit, auch dann trifft Hackl genau den richtigen Ton: Wir alle wissen, was passiert ist, es bedarf keiner Schonung – aber auch keiner Sensationssucht. Das Buch wäre übrigens auch eine sehr gute Schullektüre.
Diogenes Verlag, 978-3-257-24523-3, € 12,00
Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück
„Du sollst Vater und Mutter ehren“ – das vierte Gebot ist so schwierig umzusetzen, dass sich ganze Generationen mit und ohne Hilfe der Psychoanalyse daran abarbeiten. Um ein Vielfaches schwieriger jedoch ist das Verhältnis von Kindern und Kindeskindern mit den Holocaust-Überlebenden der Vorgeneration: Diese Eltern haben nicht nur Not, Diskriminierung, Progrome und Verfolgung erlebt, sondern eine unvorstellbare Hölle. Dass das einen direkten Einfluss auf den Umgang mit den Nachkommen hatte, das kann man erahnen. Wie schwierig das konkret ist, das beschreibt Michel Bergmann in seinem Buch „Mameleben“, in dem er seiner Mutter Charlotte ein sehr ehrliches Denkmal setzt.
Dafür taucht er in ihre Vergangenheit ein und nimmt uns mit zum Anfang des 20. Jahrhunderts in eine liberale jüdische Familie. Charlotte ist ein wildes, engagiertes Mädchen, sie geht auf die höhere Schule, spielt Theater und weiß genau, was sie will. Die Familie ist im Ort angesehen – doch gleich mit dem Wahlgewinn der Nazi-Partei 1933 kommen die Repressalien. Die Eltern überleben den Holocaust nicht, sie werden 1941 nach ihrer Deportation nach Riga erschossen. Charlotte überlebt in der Schweiz, gerade so ist sie der Mordmaschinerie der Deutschen entkommen. Im Lager dort kommt Sohn Michel zur Welt, im Januar 1945, der Krieg dauert noch wenige Monate …
Dieses Buch schafft einen sehr schwierigen Spagat: Es erzählt von unvorstellbarem Leid, vom schwierigen Miteinander. Und gleichzeitig ist es versöhnlich und geprägt von Liebe. Lesenswert!
Diogenes Verlag, 978-3-257-07225-9, € 25,00
Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis
Mit Anfang zwanzig wohnte Arno Geiger auf 30 Quadratmeter mit Klo im Zwischengeschoss mitten in Wien. Er war notorisch pleite, bis er durch einen Zufallsfund in einem Altpapiercontainer auf einen lukrativen Nebenerwerb stieß:
Von da an suchte er nahezu jeden Montag im fremden Müll nach Büchern, Postkarten und alten Fotos – und verkaufte sie an Antiquare oder auf dem Flohmarkt, manche Bücher behielt er auch selbst. Aber vor allem beschäftigte er intensiv mit den Tagebüchern und Briefen, die er dort fand: Sie boten ihm einen direkten Zugang in völlig fremde Lebenswelten. Nicht nur, weil er so schmutzig nach Hause kam, fühlte er sich dem Bodensatz der Gesellschaft zugehörig, sondern auch, weil wer im Müll wühlt tatsächlich unten angekommen ist. Nach dem Geiger im Jahr 2005 den Deutschen Buchpreis für „Es geht uns gut“ bekam, veränderte sich das: er began, die Sammeltouren als guten Teil seines Lebens zu begreifen, als „glückliches Geheimnis“, das er aber nicht nach außen trug.
In seinem neuen Buch blickt Geiger nun auf sein Leben zurück, auf das Geheimnis, und ebenso Freundschaft, Liebe, Familie und Gesellschaft. Aber natürlich auch darauf, was Literatur ist und wie sie wirken kann: das alles ist berührend und interessant und großartig zu lesen.
Hanser Verlag, 978-3-446-27617-8, € 25,00
Joe Hammond: Eine kurze Geschichte vom Fallen
Ende des Jahres 2017 erhielt Joe Hammond die Diagnose Motoneuronen-Krankheit: Nach und nach verlieren sich die Verbindungen zwischen seinen Nerven und Muskeln und das am ganzen Körper. In der Folge sind immer weniger Bewegungen möglich. Die Krankheit ist nicht heilbar und selbst ihr Fortschreiten ist kaum beeinflussbar. Hammond wohnte zu diesem Zeitpunkt in Portugal, seine Frau Gill und er hatten sich nach einem ganz anderen Familienleben gesehnt, als es in Groß-Britannien mit den beiden kleinen Söhnen möglich schien. Die Krankheit änderte alles – den Familienalltag, aber auch die Beziehungen untereinander, und die Wohnmöglichkeiten sowieso …
Sehr bildhaft und schonungslos erzählt Hammond von zwei Jahren mit einer Krankheit, die schnell voranschreitet und dabei kaum einzuschätzen ist. Sicher ist nur, dass er seinen Söhnen nur für kurze Zeit ein beschützender und liebender Vater wird sein können. Da helfen auch die 33 Glückwunschkarten nicht, die er für ihre Geburtstage nach seinem Tod schreibt - in den Beschreibungen seiner eigenen Kindheit wird klar, warum ihm das so wichtig ist. Und uns Leser*innen beschleicht eine Ahnung davon, wie viel im Leben passieren kann. Joe Hammond verliert seinen Humor während des ganzen Buches nicht, er zeigt auf, dass es oft kleine Gesten und Augenblicke sind, die aus einem Leben ein gutes Leben machen. Sein Buch ist harter Tobak; sein Buch ist aber auch eine Liebeserklärung ans Leben und die Liebe.
Verlag HarperCollins, Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, 978-3-7499-0118-0, € 12,00