Unsere Jugendbuch-Lieblinge in 2023:
Jacqueline Woodson: Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen
„Da gibt es doch einen Jungen?“ – diese Frage muss sich Ellie von Mutter und Schwester mehrfach stellen lassen. Dabei weiß sie es selbst nicht, immerhin hat sie Jeremiah erst einmal getroffen. Sprichwörtlich getroffen, sie ist in ihn hineingerannt. Sie hatte sofort eine tiefe Verbindung zu ihm gespürt. Aber geht es ihm auch so?
„Gibt es ein Mädchen?“ – Jeremiah hört die gleiche Frage und auch er kann sie nicht wirklich beantworten. Ein gegenseitiges Verstehen schien sofort da zu sein, aber ist da noch mehr? Beide sind zum ersten Mal auf einer privaten Highschool, beide müssen sich erst einfinden ins neue Leben. Für Jeremiah mit seiner schwarzen Hautfarbe ist das eine Herausforderung. Die anderen beiden dunkelhäutigen Jungen spielen genau wie er Basketball, doch ein Miteinander gibt es darum noch lange nicht … Und dann setzt sich Jeremiah im Geschichtsunterricht auf den leeren Platz neben Ellie.
Das ist eine der schönsten und traurigsten Liebesgeschichten, die ich je gelesen habe. Schon bevor die beiden zusammenkommen müssen sie sich in ihren Familien positionieren, müssen überdenken, wie viel sie überhaupt erzählen. Denn, auch wenn niemand Böses will: Ein entspanntes Miteinander der schwarzen und weißen Community gibt es nicht. Die Liebe zwischen Ellie und Jeremiah ist darum immer mehr als die Geschichte zweier (junger) Menschen. Jacqueline Woodson beschreibt Alltagsrassismus facettenreich und nachvollziehbar: „Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“ ist ein Buch, das viel zum gegenseitigen Verständnis beiträgt!
Verlag cbj, Übersetzung: Eva Riekert, mitarbeitend Chantal-Fleur Sandjon, 978-3-570-16667-3, € 18,00
Bettina Bär: Farm der Tiere
nach dem Original von George Orwell
„Alle Tiere sind gleich!"
Diese Botschaft gibt der alte, weise Eber Old Major den anderen Tieren mit auf den Weg. Und er ermutigt sie, auf dem Bauernhof miteinander zu leben - ohne Menschen wie Bauer Jones. Denn Jones behandelt seine Tiere sehr schlecht. Als Jones wenig später vergisst, die Tiere zu füttern, revoltieren sie und jagen ihn vom Hof. Sie gründen die "Farm der Tiere" - gemeinsam geben sie sich Regeln um das Miteinander zu gestalten. Doch schon bald nutzt Napoleon, ein anderer, machthungriger Eber, seine Klugheit für eigene Zwecke ...
Mit diesem Roman hat George Orwell vor mehr als sieben Jahrzehnten eine drastische Gesellschaftskritik - versteckt in einer zu Anfang märchenhaften Handlung - geschrieben. Sein Text hat heute noch die gleiche Wucht und Gültigkeit.
Bettina Bär hat Orwells Text in einfache Sprache umgearbeitet: Kurze und prägnante Sätze sowie eine vereinfachte Handlung sorgen dafür, dass der Text auch für Menschen geeignet ist, die mit dem Lesen Schwierigkeiten haben. Wir als Verlag haben beim Setzen noch auf viel Weißraum, Hilfs-Bindestriche bei langen Worten und andere Lesehilfen geachtet. Mit den Illustrationen von Mathis Bär ist ein Buch entstanden, dass auch für die inklusive Textbearbeitung in Schulen gut geeignet ist.
Bornhofen-Verlag, 978-3-981974-54-6, € 12,00
Anja Wagner: Magic Agents – In Dublin sind die Feen los!
„Erwachsene können sich nicht vorstellen, dass Kinder einen wichtigeren Auftrag haben als sie. Sie sind in dem Glauben zu belassen.“ (9. Allgemeingültige Richtlinie)
Elia Evanders Eltern wissen, wie wichtig die Missionen sind, auf die die jungen Magenten – magischen Agent*innen – geschickt werden können, sie waren früher selbst welche. Als Erwachsene arbeiten sie auch weiterhin mit Magie, ihr Job ist jedoch wie bei allen über 18 Jahren ortsgebunden und weit weniger aufregend. Elia, die gerade mit Bestnote ihre Magentenprüfung bestanden hat, sehnt die erste Mission herbei, ab ihrem 12. Geburtstag kann es jederzeit losgehen. Und tatsächlich: Am Nachmittag vorher erfährt sie, dass sie schon um Mitternacht starten soll! Ein anderer Magent hat den Notknopf gedrückt – das bedeutet Lebensgefahr und damit sofortige Rückkehr in die Zentrale. Nun soll Elia den Job übernehmen und in Dublin ein Artefakt suchen, von dem niemand weiß, wie es aussieht. Und wo es bisher war, das ist auch nicht bekannt …
Natürlich soll Elia gleich die ganze Welt retten. So ist es ja oft in Fantasyromanen … Und trotzdem hat mich dieser erste Band einer neuen Reihe absolut begeistert: Es gibt so viele ungewöhnliche Details und Ideen, dass es überraschend und eine wirkliche Lesefreude ist. Zum Beispiel braucht es einen magischen Begleiter, damit die Magenten überhaupt Magie ausüben können – sie müssen sich jeden Tag neu „aufladen“. Elias Begleiter ist ewig schlecht gelaunt und reden kann er auch, das macht ihre geheime Mission nicht leichter. Außerdem hat Anja Wagner viel über die Legenden Dublins mit hineinverwoben und in den Folgebänden, die jeweils an anderen Orten spielen werden, soll das genau so bleiben. Längere Lesefreude ist also garantiert!
Verlag cbj, 978-3-570-18056-3, € 14
Praktikant Simon empfiehlt - Kirsten Boie: Vorbei ist eben doch nicht vorbei
Die 13-jährige Karin verbringt ihre Sommerabende am liebsten mit ihrer besten Freundin Regina an der Elbe. Dort schwimmen sie oder reden über Frisuren und Jungs. Als Regina von einem Buch erzählt, das von Juden im Krieg handelt, beginnt Karin sich zu fragen, ob auch ihre Eltern und all die freundlichen und unschuldig wirkenden Nachbarn Verantwortung für das Leid der Juden tragen. Auf Nachfrage hört sie immer nur, sie könne sich ja gar nicht vorstellen, wie damals alles war und sie solle sich glücklich schätzen, noch nicht geboren gewesen zu sein. Als sich in der Siedlung über Nacht ein schreckliches Unglück ereignet, ist plötzlich nichts mehr wie es einmal war und Karins gesamtes Leben wird auf den Kopf gestellt.
In diesem in den 60er Jahren spielenden Jugendbuch kombiniert Kirsten Boie zwei sehr relevante Aspekte mit einer spannenden Geschichte über das Erwachsenwerden. So thematisiert sie die Schuldfrage der einfachen Soldaten und der stillen Gesellschaft in der NS-Zeit, und präsentiert gleichzeitig den die 60er Jahre stark prägenden Kontrast der modernen jungen Frau und ihrer konservativ erzogenen Mutter. Dadurch entsteht ein allgemein spannendes und lesenswertes Jugendbuch, das auf mehreren Ebenen zum Nachdenken motiviert.
Oetinger Verlag, 978-3-7512-0287-9, € 10,00
Bianca Schaalburg: Der Duft der Kiefern
Alles fängt mit einem Schrank, einem Schminktisch mit Kommode und einem Foto an: Als Bianca Schaalburgs Oma Else ins Pflegeheim umzieht, erbt sie deren Schlafzimmermöbel. Solide Handwerksarbeit, gekauft zur Eheschließung von Else mit Heinrich Schott. Während ihrer Kindheit verbrachte Bianca jeden zweiten Sonntag bei Oma Else und, nachdem sie mit 12 Jahren erst „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ und dann „Das Tagebuch der Anne Frank“ gelesen hatte, stellte sie Fragen zur NS-Zeit. „Wir haben nichts gewusst.“ – sie zweifelt Oma Elses Aussage nicht an. Bis sie in 2018 bei der Durchsicht alter Fotoalben einen Anstecker an Opa Heinrichs Jackett entdeckt: Ein Hakenkreuz! Auf einem Foto aus dem Jahr 1926! Fast gleichzeitig erfährt sie, dass die einzigen drei Stolpersteine in der Wohnstraße ihrer Großeltern direkt vor deren Haus eingelassen sind. Sie beginnt zu recherchieren …
„Meine Familie und ihre Geheimnisse“ – so lautet der Untertitel zu dieser Graphic Novel. Auf verschiedenen Zeitebenen erzählt Bianca Schaalburg in Wort und vor allem Bild von ihren Nachforschungen, nicht immer findet sie Antworten auf ihre Fragen. Sie erzählt im Kleinen von der Familie und im Großen vom Vernichtungsfeldzug gegen die Juden – und manchmal verbindet sich das eine mit dem anderen wie von selbst. Beim Lesen denkt man oft, wie es wohl in der eigenen Familie war und nie, dass „man nichts gewusst“ haben kann. Diese Graphic Novel gehört in jede Bibliothek und eigentlich auch in jedes Bücherregal direkt neben „Das Tagebuch der Anne Frank“: Die Erinnerung wachzuhalten ist nach wie vor notwendig.
Avant-Verlag, 978-3-964450-58-6, € 26,00
unsere Jugendbuch-Lieblinge in 2022:
Praktikant Jonas empfiehlt - Alexandra Bracken: Lore
Einst verrieten neun der altgriechischen Götter Zeus und er verbannte sie. Nun müssen sie alle sieben Jahre beweisen, dass sie ihre Unsterblichkeit verdienen, denn während einer Woche verlieren sie diese. Darauf werden sie von den Nachkommen der alten Helden aus den Sagen gejagt, die nun eingeschworene Familienclans sind. Diese sind selbst in modernen Zeiten noch aktiv. Und sie besitzen gewaltige Macht, denn wenn sie einen Gott töten, erhält dessen Mörder die Kräfte und die Unsterblichkeit des Gottes bis zu dem nächsten Agon, wenn die Jagd wieder beginnt. Lore, die letzte sterbliche Nachkommin des Perseus, will mit alldem eigentlich nichts mehr zu tun haben. Doch als der neue Ares, Aristos Kadmou, der einst ihre Familie ermorden ließ, einen finsteren Plan fasst muss sie mit der schwer verletzten Athene einen Pakt schließen. Nun ist sie gezwungen wieder in die Welt eindringen, die sie hinter sich lassen wollte.
Alexandra Bracken nutzt in ihrem Roman die antiken griechischen Sagen als solide Grundlage und verdreht dabei keine der Sagen. Schon die Grundidee des Romans, mit den von Zeus sterblich gemachten Göttern, ist im Rahmen der Sagen nicht unrealistisch. Sogar die auf den ersten Seiten gezeigten Wappen bzw. Zeichen der Häuser sind nie zufällig. Die Anspielungen auf manche der Geschichten werden die Fans altgriechischer Sagen nicht nur aufgrund ihrer Korrektheit mögen, sondern an manchen Stellen auch über Witze schmunzeln. Doch die gute Erzählart und die Spannung durch die Ungewissheit wem die Hauptfigur trauen kann, werden auch Menschen, die eigentlich keine Sagenfans sind, schnell zum Weiterlesen bewegen.
Arena Verlag, Übersetzung: Sabine Schilasky, 978-3-401-60638-5, € 22,00
Doan Bui / Leslie Plée: Glauben Sie an die Wahrheit?
Fake News sind laut Duden „in den Medien und im Internet, besonders in sozialen Netzwerken, in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen“. Nur: Woran erkennt man sie? Und: Warum ist es so schwer, ihnen überhaupt zu entgehen? Dem geht Doan Bui in dieser Graphic Novel auf den Grund. Sie beginnt damit, überhaupt zu erklären, was Journalismus bedeutet, wie wichtig Recherche ist – aber auch, wie schwierig es manchmal ist, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die die erstaunlichsten Dinge für wahr ansehen.
Die Reise in die Abgründe der Fake News beginnt in einer Kleinstadt in der Nähe von New York, die Sandy Hook heißt. Dort kamen im Dezember 2012 zwanzig Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren sowie sechs Erwachsene durch einen Amoklauf ums Leben – eine entsetzliche Tat, die aber von den „Truthern“ verleugnet wird. Die „Truther“ behaupten, dass es gar keinen Amoklauf gegeben hat, sondern Schauspieler das gespielt haben, denn Barak Obama (der damalige Präsident) bräuchte einen Grund, die Waffengesetze zu verschärfen (stark vereinfacht, darauf läuft es aber hinaus). Jetzt könnte man sagen, es ist doch egal, was eine relativ kleine Gruppe von Menschen sagt. Aber: Mit Hilfe des Internets gelang es ihnen, diese angebliche Wahrheit so intensiv zu verbreiten, dass es wirklich schwierig wurde, Wahrheit und Lüge zu trennen. Wenn die ersten zwanzig Einträge in google von einem Schauspiel reden, bleibt doch hängen, dass da was Wahres dran sein könnte. Doan Bui nimmt uns dann weiter mit zu Flat-Earthern, den Erfindern der Algorithmen, zu Fake-New-Fabriken und irgendwann natürlich auch zu Donald Trump. Sie zeigt dabei sehr genau auf, wie die Systeme dahinter funktionieren – das ist wichtig, um zu verhindern, dass sie freien Einfluss auf die Politik haben. Leslie Plée Illustrationen passen hervorragend zum Text und sorgen dafür, dass dieser „Comic zur Förderung der geistigen Gesundheit“ (O-Ton Carlsen-Verlag) schon für Menschen ab 12 Jahren verständlich ist.
Carlsen Verlag, Übersetzung: Christiane Bartelsen, 978-3-551-72329-1, € 22,00
Verena Friederike Hasel: Eine Linie ist ein Punkt, der spazieren geht
Alles, was du in der Schule nicht lernst – so lautet der Untertitel dieses Buches. Und tatsächlich ist genau solches Wissen auch darin: Wie und warum man Glücksmomente sammeln kann. Warum es lohnt, Worte nicht verschwinden zu lassen. Wieso eine Art Bürouniform hilfreich ist. Aber auch, wo Henderson Island liegt und warum diese Insel wichtig ist. Und noch sehr viel mehr Fragen und Anregungen, die weit über das Schulwissen hinausgehen, aber sehr wichtig fürs Leben sind. Wohlweislich: Anregungen, aber keine oder nur wenige Antworten, auch das macht dieses Buch so reizvoll.
Verena Friederike Hasel erzählt Geschichten, stellt im Anschluss Fragen und macht sehr konkrete Vorschläge zum eigenen Handeln. Schon die Geschichten sind abenteuerlich, interessant und oft witzig, die Fragen dazu ebenso. Und die Vorschläge sind so griffig und vielfältig, dass es eine Freude ist. Im Grunde ist „Eine Linie ist ein Punkt, der spazieren geht“ eine Anleitung zum Glücklichsein. Ich finde, dass können sowohl Teenager (für die das Buch gedacht ist) als auch Erwachsene sehr, sehr gut gebrauchen.
Verlag Kein & Aber, Illustrationen: Alice Mollon, 978-3-0369-5867-5, € 23,00