Unsere Krimi-Lieblinge in 2021:
Danach ist davor
Es ist kein freiwilliges nach-Hause-kommen für Wieland Göth. Dafür war seine Kindheit und Jugend im kleinen Dorf Rombelsheim bei Mainz zu gewaltdurchsetzt – wie es so sein kann für den schmalen, klugen Sohn des ungeliebten Lehrers. Seine Rückkunft wirft auch im Dorf Fragen auf: Warum kommt er erst jetzt, zwei Jahre nach dem großen Krieg? Was will er überhaupt hier? Und warum geht er, auch nach mehrfacher Aufforderung, nicht zum Grafen? Wieland selbst scheint ganz andere Fragen zu haben, ständig schnüffelt er irgendwo herum. Und das kann im Dorf keiner gebrauchen!
Es gibt einige Kriminalromane, die in der Weimarer Republik spielen. Jürgen Heimbachs Krimi ist trotzdem besonders: Das Setting in einem kleinen Dorf in Rheinhessen lässt sehr genaue Charakterbeschreibungen zu und immer fühlt es sich irgendwie bekannt an. Auch die politische Realität der französischen Besatzung gibt dem Buch einen besonderen Ton – wir Leser:innen nehmen das Erstarken des Nationalismus so kurz nach dem ersten Weltkrieg sehr genau wahr. Wie die Machtsysteme sind, das fasziniert, und hat durchaus Bezüge ins Hier und Jetzt. „Vorboten“ ist richtig groß trotz nicht allzu vieler Seiten.
Jürgen Heimbach: „Vorboten“, Unionsverlag, 978-3-293-00567-9, € 18,00
Krimi-Lesefutter-Qualität
Einen solchen Nachtdienst wollen die beiden Streifenpolizisten nicht noch einmal erleben: Bei der Kontrollfahrt hatten sie einen Unfallort entdeckt, ein Mann und ein Kind waren gestorben. Und weit und breit kein zweites Unfallfahrzeug zu sehen – eine Fahrerflucht mit Todesfolge. Nun liegt die Hoffnung auf dem neuen Chef der Polizeistation, Hendrik Norberg, der sich von Itzehoe nach St. Peter-Ording hat zurückversetzen lassen, um mehr Zeit für seine beiden Söhne zu haben. Trotz seiner Erfahrung als Mordermittler ist die Suche nach Unfallauto/Fahrer*in jedoch fast aussichtslos. Zeitgleich wird eine junge Frau vermisst, ihre Arbeitskolleg*innen von der Vogelwarte sind ziemlich fassungslos, weil sie extrem zuverlässig ist und die Arbeit ihr ein großes Anliegen. Die offizielle polizeiliche Suche betreut Anna Wagner, die sich aus privaten Gründen aus München hat versetzen lassen - Norberg ist alles andere als glücklich, da hätte er ja auch selbst ermitteln können.
Svea Jensen beginnt mit „Nordwesttod“ eine Reihe, die schon im Mai mit „Nordwestzorn“ fortgesetzt wird. Wir Leser*innen können in diesem Buch einiges über Umweltschutz und Hotelerie lernen – uns aber auch einfach dem Lokalkolorit St. Peter-Ordings, zwei gegensätzlichen Charakteren und einem spannend und interessant erzählten Kriminalroman ergeben.
Svea Jensen: „Nordwesttod“, HarperCollins, 978-3-7499-0003-9,€ 12,00
Schulleben
Gregor Horvath (Deutsch und Geschichte), ist ein wenig besonders: Einerseits ist es ihm nicht möglich, Gefühle so zu empfinden wie sein Gegenüber, andererseits liegt es ihm fern, mit dieser Eigenschaft andere verletzen zu wollen. So reflektiert er also nicht nur sich selbst, sondern auch seine Mitmenschen – eine Eigenschaft, die ihn zur Bestbesetzung für den Posten als Ermittler macht. Denn auf dem Schulgelände wurde Lehrer Menzel tot aufgefunden und die Polizei (Auftritt Gregors Horvarths Zwillingsbruder Martin) legt das unter Selbstmord ab. Nicht, weil ein Selbstmord eindeutig ist, sondern weil er naheliegend genug ist, der Kripo Zeit für wichtigere Fälle zu lassen. Und so redet Oberstudienrat Horvath mit den unterschiedlichsten Leuten, sammelt Haare für die Gerichtsmedizin und bringt sich selbst damit in große Gefahr …
Eine normale Schule, Lehrer*innen, wie man sie überall findet (oder das zumindest glaubt), und auch in der Schülerschaft finden sich sämtliche Blaupausen von der Überfliegerin zum Klassenkasper. Ein Sujet, dass wir alle kennen. Oder? Marc Hofmanns Beschreibungen sind durchaus klischeebehaftet – aber sie beschreiben weder das Kollegium noch die Schülerschaft plus Eltern verletzend. Die Krimihandlung ist eher langsam aber durchaus spannend. Unterhaltsam ist das Buch an vielen Stellen auch, und dazulernen kann man außerdem. Ein echter Genuss!
Marc Hofmann: „Der Mathelehrer und der Tod“, Knaur Verlag, 978-3-426-52547-0, € 9,99
Unsere Krimi-Lieblinge in 2020:
Faszinierender Reihenanfang …
Rabbi David Small ist in seiner Gemeinde nicht unumstritten – ist er doch reichlich jung und stellt einfach nichts „dar“. Außerdem ist er von der Sorte leicht schusseliger Gelehrter: Es kann passieren, dass er beim Gemeindefest statt eine freundliche Begrüßungsrede einen Vortrag über koscheres Essen hält, nur weil ein nicht-koscherer Krabbencocktail auf dem Buffet steht. Manchmal ist es ja ganz hilfreich, dass er auch im echten Leben den Talmud zu Rate zieht. Aber ist er wirklich verlässlich? Oder doch eher überfordert? Die Gemeinde ist uneins. Besonders als auf dem Parkplatz der Synagoge ein Dienstmädchen tot aufgefunden wird und dessen Tasche sich in Rabbi Smalls Auto findet …
Harry Kemelmanns Reihe um Rabbi Small hat fast sechst Jahrzehnte „auf dem Buckel“. Das merkt man dem Plot durchaus an; das Kleinstadtleben ist ein anderes als heutzutage und der Erzählfluss von altmodischem Charme. Lesenswert sind die Bücher trotzdem: Es sind klassische whodunits, bei denen die Detektivarbeit im Vordergrund steht. Neben der Krimihandlung erzählt Kemelmann von jüdischem Gemeinde- und Alltagsleben – das ist reichlich erhellend und rundum interessant. Auch beim zweiten Lesen nach zwanzig Jahren.
Harry Kemelmann: „Am Freitag schlief der Rabbi lang.“, Unionsverlag, Übersetzung Liselotte Julius, 978-3-293-20709-7, € 9,95
Mutig
Peter Shaw ist Versicherungsdetektiv in L.A. Gerade hat er einen Fall abgeschlossen, da fällt ihm schon der nächste in die Hände – in seiner alten Heimatstadt Rocky Beach: Terry Reinhardt, Besitzer einer Waldhütte hatte die Versicherungssumme deutlich erhöht, und das einen Tag bevor sie einem Waldbrand zum Opfer fiel. Dort angekommen besichtigen Shaw und Reinhardt die Ruine und anschließend lässt Shaw sich zum Polizeirevier bringen. Das Gespräch mit den Polizisten wirft mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Bob Andrews hingegen reist nach Rocky Beach, weil er für eine neue Fernsehserie recherchieren will, die ihm besonders am Herzen liegt. Er braucht noch gute Argumente, denn bisher findet sich niemand, der sie produzieren will. Als die beiden aufeinandertreffen, ist der alte Sportsgeist bald geweckt. Nur Justus Jonas, der nie aus der kleinen Stadt herausgekommen ist, ist alles andere als zugeneigt mit den beiden anderen aktiv zu werden. Auch nicht, als es zwei Tote gibt …
Die drei ??? sind absoluter Kult. Sowohl bei den 8-jährigen, als auch bei den 40-jährigen - was sicherlich sowohl am Setting als auch an den Fragezeichen selbst und natürlich dem Heile-Welt-Appeal liegt. Man weiß einfach immer, worauf man sich einlässt. Die Graphic Novel „Rocky Beach – Eine Interpretation“ geht völlig andere Wege: Die drei sind erwachsen geworden und haben sich komplett entfremdet. Rocky Beach erinnert, mit den Gewaltszenen und der Drogenkriminalität, eher an Gotham City. Allerdings hat auch das, für erwachsene Leser*innen, einen enormen Reiz!
Christopher Tauber / Hanna Wenzel: „Rocky Beach – Eine Interpretation“, Kosmos Verlag, 978-3-440-16562-1, € 25,00
Gute Kameraden
Wenn es nach seinen Eltern geht, soll Thomas Engel Lehrer oder Buchhalter werden; für ihn selbst ist klar, dass er zur Kripo gehen will. Zum Glück gibt es da des Vaters besten Freund, Strobel, der Thomas zugeneigt ist und die Eltern überreden kann. Nur das beste Abschlusszeugnis muss er nach Hause bringen. Als das gelingt, ist er alsbald in Strobels Team. Doch das ist ganz anders, als er erwartet hat – statt dem Gesetz sind die Kameraden ihrem Chef verpflichtet. Und das wird schwierig, als es eine grausame Mordserie gibt, die mit Fällen aus 1939 zusammenzuhängen scheint.
Thomas Christos ist das Pseudonym des Drehbuchautors Christos Yiannopoulos. Das merkt man dem Buch durchaus an, „1965“ ist kein Drehbuch, aber als Vorlage sehr gut geeignet. Stilistische Raffinesse darf der Leser hier nicht erwarten. Und doch ist das Buch ausgesprochen lesenswert: Die Kriminalhandlung ist schlüssig, spannend und sehr verwickelt, der Konflikt zwischen dem jungen Polizisten, dem Gesetze wichtig sind, und dem älteren, seine Macht ausnutzenden, Chef gut herausgearbeitet. Vor allem aber sind es die beiden Handlungsebenen, das Geschehen in 1939, die Verquickungen mit den Nazis, und deren Einfluss aufs Jahr 1965, die diesem Kriminalroman eine ungeahnte Tiefe geben.
Thomas Christos: „1965 – Der erste Fall für Thomas Engel“, Blanvalet Verlag, 978-3-7645-079-0, € 20,00, eBook € 14,99, Hörbuch € 20,00
Krimi oder Geisterroman?
Beides! Mahony ist 26 Jahre alt, als er einen Brief und ein Foto erhält – die ersten Verbindungen zu seiner Mutter, die ihn (angeblich) als Säugling einfach vor dem Kinderheim ausgesetzt hat. Das erste Mal liest er von ihrer Liebe zu ihm und auch, dass sie eine so sehr junge Mutter war erfährt er jetzt zum ersten Mal. Wie magisch angezogen ist er nun von ihrem Heimatort, dem kleinen Dorf Mulderrig an der irischen Küste. Als er dort ankommt wird schnell klar, dass er es nicht einfach haben wird, denn den Bewohnern kommt sein Gesicht mit dem aufsässigen Blick bekannt vor – sie werden aber nur ungern an seine Mutter erinnert … Lediglich Tadgh, der Wirt, und Mrs. Cauley, die kapriziöse Hotelbewohnerin, unterstützen ihn: Mahony möchte herausfinden was geschehen ist, damals mit seiner Mutter, und das sorgt im ganzen Dorf für Aufruhr.
Jess Kidds Roman spielt auf zwei Zeitebenen, in 1950 und 1976, er beginnt mit der Ermordung von Mahonys Mutter. Kidd schreibt mit viel Humor, sie hat außerdem eine sehr bildhafte Sprache. Sehr ungewöhnlich sind die Geister, die für Mahony (und damit bald auch für uns Leser*innen) wie selbstverständlich ständig anwesend sind und ins Geschehen eingreifen – sie geben dem Roman, der auch ein Krimi ist, eine durchaus skurrile Note.
Jess Kidd: „Der Freund der Toten“, Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Dumont Verlag, € 11,00 eBook € 8,99
Bimini
Beim Routinescan von Containern voller Importware im Hamburger Hafen werden fünf Leichen entdeckt. Fünf kleine indische Mädchen, die ein Kuscheltier im Arm halten, auf dem das Logo einer Pharmafirma aufgedruckt ist. Die Polizei ermittelt, die Presse ist alarmiert – gibt es einen Zusammenhang zwischen Leichen und Firma? Iliana Kornblum, bei der Pharmafirma bisher zuständig für das erfolgreiche Alzheimer-Medikament Bimini, bekommt wenige Tage später den Chefposten für ein wichtiges Projekt angetragen; Mark, der bisherige Chef und ihr langjähriger Freund, hat die Firma mit sofortiger Wirkung verlassen. Kornblum ist einerseits sicher, dass ihre Firma „sauber“ ist – andererseits gibt es an allen Ecken und Enden Unstimmigkeiten. Dass ihre Tochter Marie in ähnlichem Alter ist wie die Mädchen, macht das Rätsel um ihren Tod für sie noch schwerer erträglich. Und keinen klaren Kopf zu haben, ist ausgesprochen gefährlich …
Jens Lubbadehs Thriller ist ungewöhnlich konstruiert. Wir Leser*innen haben mehrere Handlungsstränge und Lösungsansätze im Auge – und immer wieder tun sich neue, logische Entwicklungen auf. Aber nicht nur darum ist das Buch so interessant: Es sind die ethischen, moralischen und medizinischen Fragen, die Lubbadeh mit eingearbeitet hat, Fragen, die uns alle betreffen und die wir beim Lesen quasi mitdenken und -bearbeiten.
Jens Lubbadeh: „Transfusion“, Heyne Verlag, 978-3-453-32008-6, € 14,99, eBook € 11,99