Lieblinge des Monats Oktober.
Klaus Wagenbach: Mein Italien, kreuz und quer
Luciano de Crescenzo erzählt von einer Taxifahrt, bei der der Fahrer ihm das Verwarnungsgeld zurechnen wollte – und man weiß nicht so recht, wem man recht geben soll. Umberto Eco singt ein Loblied auf den Nebel, jedes Wort kann ich nachfühlen, Nebel mag ich und habe ihn im Rheintal ja auch oft. Roberto Begnini überlegt, ob Gott die sieben Todsünden aus eigener Erfahrung kennt. Michela Murgia beschwört lebenslange stabile Freundschaften durchs gemeinsame Spiel in der Kindheit. Und für Natalia Ginzburg ist das Tragen von kaputten Schuhen Symptom für ein selbstbestimmtes Leben als Schriftstellerin.
„Mein Italien, kreuz und quer“ ist eines dieser Bücher, die man nicht aus der Hand legen mag. Nicht, weil es besonders spannend ist – sondern, weil es so vielfältig und facettenreich, so erhellend und mitreißend ist. Der Verleger Klaus Wagenbach erkundete in den 1950er Jahren als Student zum ersten Mal Italien; er wollte sich intensiv mit italienischer Kunst beschäftigen, aber auch mit der Politik und der Literatur. Es war der Beginn einer langen Freundschaft, an der er uns mit diesem Buch teilhaben lässt. … Die erste Ausgabe stammt aus 2004, die jetzige dritte Ausgabe aus 2024. Ergänzungen und Änderungen hat, ganz im Sinne des großen Verlegers, Susanne Schüssler zu verantworten.
Mich wird das Buch sicher sehr lange begleiten. So wie italienische Literatur eh‘ schon sehr lange in meine Lesewelten eingezogen ist.
Verlag Klaus Wagenbach, verschiedene Übersetzer*innen, 978-3-83031-2827-0, € 18,00
Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena
„Mein Vater hatte den Samstag damit zugebracht, das Essen zu planen und sich Sonias, Gretas und Racheles Lieblingsgerichte ins Gedächtnis zu rufen.“ Es ist die mittlere Tochter Giulia, die diese Geschichte erzählt. Vom Sonntagessen, das wegen eines Unfalls ganz kurzfristig abgesagt werden muss. Und vom Vater, der nun überhaupt nichts mit sich anzufangen weiß und auch keine Verwendung für das bereits gekochte Essen für fünf Personen hat. Dazwischen erzählt uns Giulia Alltägliches aus der Vergangenheit und der Gegenwart – übers Familienleben, die Beziehung zu Geschwistern und Eltern, die Arbeit des Vaters. Auch über den Tod der Mutter berichtet sie und wie unterschiedlich jeder trauert. Der Vater jedenfalls macht an diesem Sonntag während eines Spaziergangs Bekanntschaft mit Elena und ihrem Sohn Gaston. Sie kommen nur langsam ins Gespräch, und doch ändert sich für alle drei – und für ihre Familien – durch diese Begegnung nach und nach das ganze Leben.
Es klingt ein bisschen wie schon oft gelesen: An einem dieser wirklich blöden Tage begegnet man Fremden und danach ist alles anders. Fabio Geda erzählt diese Geschichte aber sehr besonders – ohne falschen Ton, mit viele Wahrhaftigkeit und Ruhe, vor allem aber mit einer großen Zurückhaltung gegenüber seinen Figuren. Ich habe das sehr gerne gelesen, es ist wirklich was „fürs Herz“ ohne auch nur einen Hauch von Kitsch.
Verlag hanserblau, Übersetzung: Verena von Koskull, 978-3-446-27060-2, € 10,00
Fabio Stassi: Die Seele aller Zufälle
Sechs Sätze ohne ersichtlichen Zusammenhang – das ist alles, was Giovanna Baldini an Informationen für den Bibliotherapeuten Vince Corso hat. Diese Sätze wiederholt ihr an Demenz erkrankter Bruder regelmäßig, es sind die einzigen Worte, die er verständlich äußert. Eigentlich hilft Corso Menschen dabei, reale oder eingebildete Probleme mithilfe Literatur zu lösen. Dieses Rätsel aber ist kein Problem wie jedes andere, denn Signora Baldini möchte das Buch finden, aus dem die Sätze stammen, um es ihrem Bruder vorzulesen. Corso verspricht nichts – obwohl ihm die stattliche Entlohnung sehr zupass kommt –, ertappt sich aber schon bald dabei, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Immer wieder kommt ihm der Zufall zu Hilfe. Doch wirklich ernst wird es erst, als er herausfindet, dass Giovanna Baldini nicht die ist, die sie vorzugeben scheint …
Das ist ein ganzes Literaturfeuerwerk: Viele interessante Empfehlungen und reichlich kluge Zitate verführen nicht nur dazu, diesen tollen „Detektivroman“ (so das Cover) mit bemerkenswertem Genuss zu lesen – sie machen auch große Lust, sich näher mit den erwähnten Büchern zu beschäftigen. Außerdem wandert man durch Rom, lernt seine Bewohner*innen kennen, entdeckt Plätze, Straßen und Cafés: Viel mehr Italien geht kaum.
Edition Converso, Übersetzung: Annette Kopetzki, 978-3-949558-30-6, € 24,00
Francesca Melandri: Kalte Füße
Anfang März 2022 sieht Francesca Melandri ein Video aus der Ukraine, in dem ein russischer Kindersoldat von alten Frauen mit Tee und einem Kanten Brot versorgt wird. „Ruf‘ deine Mutter an und sag‘, dass du noch lebst.“, dieser Satz ist gut zu verstehen. Melandri realisiert, dass ihr Vater, der im zweiten Weltkrieg ein Dutzend italienischer Gebirgsjäger unter sich hatte und immer von den alten Frauen dort berichtete, nicht in Russland kämpfte, sondern in der Ukraine. „Rückzug aus Russland“, so nennt man in Italien das Ende der Kämpfe, die Soldaten waren geschlagen worden, erfroren, gefangen genommen – es ist eine Opfergeschichte, die man sich in Italien erzählt. Und auch die Geschichten, die der Journalist Franco Melandri aus dem Krieg mitbringt, erzählen nichts von niederen Beweggründen, von gutgeheißenem Faschismus und begangenen Greueltaten. Sondern sie erzählen von Corpsgeist, bösen Deutschen und hilfreichen alten Frauen.
„Faschismus ist kein politisches Problem“, erklärt der Journalist Massimo Rendina, „Faschismus ist eine Geisteshaltung.“ So schreibt Melandri auf Seite 43 – und auf allen anderen Seiten sortiert sie genau auseinander, wie Faschismus wirkt, was Menschen antreibt, wie faschistische Strukturen in die alltäglichsten Handlungen hineinreichen. Das alles im Hinblick auf die eigene Familiengeschichte, aber auch im Hinblick auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.
Wahrscheinlich ist das Francesca Melandris persönlichstes Buch. Und zugleich ist es eine allgemeingültige, deutliche Stellungnahme gegen Krieg und Faschismus, und dafür, sich nicht mit oberflächlichen Wahrheiten zufrieden zu geben.
Verlag Klaus Wagenbach, Übersetzung: Esther Hansen, 978-3-8031-3367-0, € 24,00
Paul Heyse: Italienische Volksmärchen
Margheritina landet statt Birnen in der Vorratskammer des Königs – und hat es dem Königssohn zu verdanken, dass alles zum Guten kommt. Geppone hingegen kommt mit List und Hartnäckigkeit zum Ziel. Aschenbrödels italienische Geschichte ähnelt der ihrer deutschen Cousine, wobei nur Aschenbrödel selbst den Schuh anprobieren muss.
Die Märchen stammen aus Pisa, Mugello oder ganz anderen Orten und sind schon vor über hundert Jahren von Paul Heyse ins Deutsche übertragen worden. Heyse studierte verschiedene Märchensammlungen italienischer Sprache und bemühte sich bei der Übersetzung der von ihm ausgewählten Texte um Korrektheit: „(…) während Wilhelm Grimm in den Kinder- und Hausmärchen sein dichterisches Feingefühl walten ließ (…), gab ich den fremden Text ohne jede eigene Zutat oder Redaktion wieder“. Das macht die vorliegende Sammlung besonders reizvoll, finde ich – die Märchen kommen unverfälscht zu uns; sie zeigen sowohl kulturelle Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede.
Nun ist das Vorlesen von Märchen ja eine durchaus zwiespältige Sache, nicht in allen Familien zählt es zum Vorlesekanon. Allen, die Märchen mögen, sei dieses Buch aber wärmstens empfohlen.
Anaconda Verlag, Übersetzung: Paul Heyse, 978-3-7306-1351-1, € 9,95