Feine Bücher im November 2024
Lucia Bornhofen empfiehlt:
Thomas Zwerina: „Eine Fingerkuppe Freiheit“
Thomas Zwerina war im Oktober zu Lesung bei uns und ich möchte die Gelegenheit nutzen, dieses Buch unbedingt nochmal zu empfehlen: Zwerina hat, mit einiger dichterischer Freiheit, aber immer auch auf Basis bekannter Fakten, eine Romanbiografie über Louis Braille geschrieben. Louis Braille verlor sein Augenlicht in der frühen Kindheit, durfte aber entgegen damaligen Gepflogenheiten die Dorfschule besuchen. Er war so klug, dass der Pfarrer und auch der Lehrer des Ortes die Eltern überredeten, diesen ihren jüngsten Sohn ins staatliche Blindeninstitut zu geben. So zog Louis im Alter von 10 Jahren nach Paris. Zwei Jahre später entdeckte er die „Nachtschrift“ des Charles Barbier, die als Geheimschrift fürs Militär erfunden worden war und auf 12 Punkten beruhte. In den nächsten Jahren entwickelte Braille daraus ein System, das die einzelnen Buchstaben aus nur 6 Punkten abbildete – die wiederum passen unter eine Fingerkuppe und darum sind die einzelnen Buchstaben mit einer Berührung zu erfassen. Eine sensationelle Erfindung, die es blinden Menschen ermöglichte, sich selbständig Wissen anzueignen. Leider gab es (auch am Blindeninstitut) heftigen Gegenwind: Louis Braille hat den Siegeszug seiner Schrift nicht mehr miterlebt.
Das Ganze ist in einer sehr besonderen Sprache geschrieben, ein bisschen geziert und passend zum 18. Jahrhundert. Aber überhaupt nicht angestaubt, sondern mitreißend und mit ungewöhnlichen Bildern. Dieses Buch ist also hochinteressant und lesenswert zugleich.
Verlag HarperCollins, 978-3-365-00552-1, € 24,00
Finde den Fehler – 50 Meisterwerke im Detail betrachtet
Beim Thema „Sehen“ bleiben wir für die zweite Empfehlung. Bei „Finde den Fehler“ (Untertitel: Bilderrätsel, hochwertig gedruckt) geht’s ums sehr genaue Hinsehen: Der kleine, feine Verlag Favoritenpresse hat ein Rätselbuch gestaltet, in dem die bekannten „Finde den Fehler“-Rätsel nicht auf die übliche Art dargestellt sind. Sondern hier gibt es Kunstwerke, Meisterwerke – und direkt darunter dasselbe Bild nochmal. Wobei das natürlich nicht ganz stimmt, es sind 10 Fehler eingemalt. Und beim Suchen dieser Fehler gucken wir die Malereien natürlich besonders intensiv an, entdecken alle möglichen Details. Auf der Rückseite ist nicht nur die Auflösung (Die Fehler sind sehr knifflig! Eine Auflösung braucht es unbedingt!), sondern es steht auch eine Kurzbiografie des Künstlers, der Künstlerin (leider sind nur zwei Malerinnen vertreten) und eine Info zum Bild. Ich finde das mit 15 € preislich wirklich toll und es ist auch ein prima Geschenk für Kunstinteressierte – zu Weihnachten oder einfach so.
(Es gibt noch ein Geschwisterbuch in gleicher Ausstattung: Hier sind es 50 Botanische Gemälde …)
Favoritenpresse, 9783-968491-70-7, € 15,00
Florian Weiß & Lucia Jay von Seldeneck: Was eine Kiefer ist.
Wir bleiben noch einmal beim Sehen und bei der Botanik – allerdings mit toller textlicher Ergänzung: „Was eine Kiefer ist – Geschichten aus der botanischen Welt“ aus dem Kunstanstifter Verlag ist eine echte Augenweide. Es hat darüber hinaus auch wirklich kluge und informative Texte. Florian Weiß und Lucia Jay von Seldeneck haben sich da ein wirklich schönes Buch ausgedacht und der Verlag Kunstanstifter hat das mit großem Können (auch bezüglich Gestaltung und Haptik) umgesetzt.
Das Konzept ist sehr besonders. 30 Pflanzen aus der ganzen Welt sind hier verzeichnet – der Eintrag beginnt aber stets mit einer Geschichte. Ob sie selbst erlebt ist oder eine allgemeine „Weltgeschichte“, das ist zweitrangig: wahr sind sie alle. Erst auf der zweiten Doppelseite sind die botanischen Angaben und ein großformatiges Bild. Außerdem ist hier erklärt, wie es zu der Geschichte der Vorderseiten kam. Das macht richtig Lust darauf, sich umfassend mit den genannten Pflanzen zu beschäftigen. Es zeigt aber auch auf sehr beeindruckende Weise, wie alles miteinander verwoben ist, was Pflanzen auch für uns Menschen bedeuten. Tolles Konzept, tolles Buch!
Verlag Kunstanstifter, 978-3-948743-37-6, € 30,00
Laura Spence-Ash: Und dahinter das Meer
Selten habe ich mich so bereichert gefühlt, wenn ich ein Buch über Familie gelesen habe ... Das hier ist ein herzenswarmes, faszinierend erzähltes und kluges Buch!
Erzählt wird die Geschichte von Beatrix Thompson, die 1940 mit elf aus dem hochgefährdeten London nach Maine geschickt wird. Ihre Mutter hätte sie dabehalten wollen, doch der Vater setzte sich durch und lässt die Tochter auch noch glauben, dass die Verschickung der Wunsch der Mutter sei.
In Maine findet Beatrix in der Familie Gregory eine beeindruckende und liebevolle Ersatzfamilie, mit einem jüngeren und einem älteren "Stief"-Bruder. Die Gregorys sind finanziell etwas bessergestellt als die Thompsons, Beatrix lernt ein vollkommen anderes Leben kennen. Auch wenn Nancy Gregory viele Briefe schreibt, in denen sie von Beatrix erzählt, entfremden sich die Thompsons voneinander, allein durch die Entfernung und die lange Zeit.
Die erste Hälfte des Buches erzählt von diesen fünf Jahren bis Beas Rückkehr nach London, und diese Jahre beinhalten natürlich auch die Jugendjahre, diese großen Veränderungsjahre der drei Kinder. Darüber hinaus erleben wir die beiden Familien aber auch in den 1950er und 1960er Jahren: Allen beim Erwachsen- und Altwerden zuzugucken ist faszinierend und wirklich toll gemacht. Wie sich Familienstrukturen ändern, was Beziehungen prägt, wird einfühlsam dargestellt. Ein Buch für einen einzigen Nachmittag auf der Couch.
mareverlag, Übersetzung: Claudia Feldmann, 978-3-86648-702-4, € 25,00
Laura Wood: Agency for Scandals
Wenn Sie charmante Kriminalgeschichten mögen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert spielen – dann ist es ganz egal ob Sie 16 oder 96 sind, „Agency for Scandal“ wird Sie bestens unterhalten!
Izzy Stanhope ist von niederem Adel und eher unscheinbar. Seit dem Tod ihres Vaters, der zwar ein herzensguter Mensch war aber in Finanzdingen ein sehr schlechtes Händchen hatte, ist ihre Familie hoch verschuldet. Izzy hat nach und nach den ganzen Hausstand verkauft um die Lebenshaltungskosten zu decken. Nur die Gemächer ihrer Mutter, die seit ihrem Witwendasein das Zimmer nicht mehr verlässt, sind unverändert geblieben. Als sie gar nicht mehr weiter weiß, wird sie ins Finkennest eingeladen – und ihr Leben ändert sich vollkommen! Mrs. Finchs Finkennest ist die Basis der „Agency for Scandals“, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Ungerechtigkeit gegenüber Frauen mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln aufzulösen. Und Izzy ist schon bald eine ausgebildete Agentin. Blöd ist nur, dass sie im gerade beginnenden Fall immer wieder dem eine zwiespältige Rolle spielenden Duke of Roxton zu tun hat. Und sie unsterblich in ihn verliebt ist.
Die Autorin Laura Wood, die in England schon zahlreiche Preise für ihre Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbücher gewonnen hat, hat über Literatur des 19. Jahrhunderts promoviert. Sie liebt Liebesromane, Tee und Feminismus. Und ich lieb‘, was und wie sie schreibt: Zum Glück kommt im nächsten Jahr der zweite Band der Agency of Scandals.
Verlag Fischer-Sauerländer, Übersetzung: Petra Koop-Pawish, 978-3-7373-4389-3, € 15,90
Alex Thanner: Weihnachten mit Mama
Johannes Siebenschön ist Ende dreißig und glücklich mit der Französin Julie verheiratet. Er ist das älteste von vier Siebenschön-Kindern und das mit der besten Beziehung zu Mutter Elisabeth. Die Familie Siebenschön ist schon seit vielen Jahren an Weihnachten nicht mehr komplett – und in diesem Jahr wünscht sich Elisabeth nichts anderes, als dass das wieder anders ist. Denn sie wird am 24. Dezember 65 Jahre alt und die große Feier soll ihr Geburtstagsgeschenk von allen sein. Sie hat sich deswegen sogar mit ihrer Schwester Charlotte versöhnt, mit der sie 15 Jahre Funkstille hatte. Drei Tage vor Weihnachten bekommt Johannes einen Anruf von seinem Vater, der eigentlich nie telefoniert: Die elterliche Wohnung in München ist noch vollkommen unweihnachtlich und Mutter Elisabeth so halsstarrig wie unkoordiniert …
Und damit beginnt eine chaotische Weihnachtszeit – ob am Ende alles gut wird? Das verrate ich Ihnen nicht. Nur, dass es sehr amüsant zu lesen ist, das Siebenschön‘sche Familienleben. Ein bisschen zu wild um wahr zu sein, aber vielleicht ja doch nicht. Mir hat auch gut gefallen, dass es mich als Leserin so ein bisschen „runtergedimmt“ hat: Dass es bei Weihnachten nicht um Perfektion, sondern um Familie und Liebe und eine gute Zeit geht, das liest sich da nämlich ständig mit.
Thiele Verlag, 978-3-85179-555-4, € 14,00
Peter Kurzeck: Frankfurt Paris Frankfurt
Dieses Buch ist der erste Teil von Kurzecks Romanzyklus „Das alte Jahrhundert“ und gleichzeitig der letzte, der überhaupt erschienen ist. Um es genau zu sagen, kam er erst im September 2024, elf Jahre nach dem Tod des Autors. Nun sind es insgesamt zehn Bücher, in denen Kurzeck seinen autofiktionalen Erzähler berichten lässt: Vom Leben in der Großstadt, vom Schreiben und dem Hadern damit Schriftsteller zu sein, aber auch und eigentlich vor allem über die Zeit, in der er lebt. Dieser erste Band spielt im Jahr 1977, dem „deutschen Herbst“. Die RAF ist in aller Munde, Hans-Martin Schleyer wird entführt – das ist die politische und gesellschaftliche Großwetterlage. Keine Bleibe, wenig Geld und Freund Jürgen, der unbedingt weg aus Deutschland muss – das sind die persönlichen Umstände. Statt nach Russland oder Norwegen, erste Einfälle für ein Reiseziel, geht die Reise schließlich nach Paris, und Erzähler Peter ist Jürgens Begleiter. Und so reisen auch wir nach Paris mit. „Dann Paris und der Himmel fängt an zu leuchten. Mit ihm die Bars, die Nächte, die Märkte, das Essen, französische Zigaretten und das Leben.“
Ich würde mir wünschen, dass Sie Peter Kurzeck entdecken – er hat eine so eigenwillige knappe Sprache und dabei so viel zu berichten: Jedes Wort, jede Zeile lohnt!
Verlag Schöffling & Co., 978-3-8956-1694-5, € 28,00
Erich Kästner: Das Land, wo die Kanonen blühn
Der Atrium-Verlag ist 1936 extra wegen Erich Kästner gegründet worden: der deutsch-jüdische Verleger Kurt Maschler wollte die Texte Kästners nach dessen Publikationsverbot durch die Nazis unbedingt für den deutschsprachigen Markt verfügbar halten. Also hat er kurzentschlossen einen Verlag in Basel, Wien und Mährisch-Ohstrau gegründet. Maschler emigrierte wenig später nach Amsterdam und 1939 schließlich nach London. Dort ruhte der Verlag, war aber nach Ende des Zweiten Weltkriegs bald wieder am Start. Kästner ist weiterhin ein fester Bestandteil.
Gedichte und Prosa für den Frieden, so lautet der Untertitel des schmalen Büchleins. Diese Zusammenstellung ist im Juni erschienen, zusammengestellt hat sie Kästner-Experte Sven Hanuschek und der hat auch ein erhellendes Nachwort verfasst.
Ich empfehle das Buch, weil ich, wie vermutlich wir alle, derzeit mit dem Weltgeschehen hadere und es schwierig finde, für mich einen Standpunkt zu finden. Kästner bringt mich gedanklich in eine andere Richtung – obwohl er mit Faschismus und Verfolgung zu kämpfen hatte. Er gibt reichlich zum Nachdenken.
Atrium Verlag, 978-3-85535-186-2, € 12,00
Minitta und Melanie Kandlbauer / Yani Hamdy: Gute Nachrichten aus aller Welt – von Sudan bis Afghanistan
Im Vorwort stellen sich die beiden Autorinnen vor und erzählen, dass sie schon viele Länder bereist haben. Und immer wieder überrascht waren, dass diese so ganz anders waren, als sie vermuteten. Warum das so ist? Weil über sehr viele Länder ausschließlich in den Nachrichten berichtet wird – und dann eigentlich immer mit nichts Gutes. So kennen wir viele Länder vor allem durch Kriege, Naturkatastrophen oder Hungersnöte. Dabei gibt es eigentlich von jedem Land auch Schönes zu berichten!
Minitta und Melanie Kandlbauer haben es sich zum Ziel gesetzt, solche Nachrichten zu sammeln; daraus ist dieses Buch entstanden. So lernen wir, dass im Sudan die meisten Pyramiden stehen, in Namibia das Flechten von Braids eine Gemeinschaftsaufgabe mit viel Gelächter ist, und in Rumänien die letzten Urwälder Europas stehen. Die einzelnen Kapitel betreffen jeweils einen Kontinent und sie beginnen mit Informationen über ihn. Die zweite Doppelseite der Kapitel heißt stets „Was nicht in den Schulbüchern steht“.
Empfohlen ist dieses tolle Buch für die Altersgruppe 6 bis 99 Jahre. Das kann ich nur unterstreichen: Gute Nachrichten zu lesen, das tut jedem gut. Und mit diesem Buch lernt man eine ganze Menge dazu! Außerdem sind die Illustrationen von Yani Hamdy eine echte Augenweide.
Leykam Verlag, 978-3-7011-8318-0, € 24,00
Die Gernsheimer Bilderbucheule bekommt in diesem Jahr:
Alex Latimer: Denk bloß nicht an Tiger!
Für die Bilderbucheule war ich in diesem Jahr in fünf Kindergärten und habe insgesamt 250 Kindern vier Bücher vorgelesen. Ich gehe zweimal in jede Gruppe und bringe zu jedem Termin zwei Bücher mit, ein langes und ein kurzes. Die Kinder bekommen dann Steinchen und votieren damit für das Buch, das ihnen am besten gefallen hat.
Diesmal haben sie sehr gelacht und auch die Erzieherinnen und Erzieher hatten großen Spaß mit dem Gewinnerbuch „Denk bloß nicht an Tiger“ von Alex Latimer! Das Buch ist nämlich magisch. Es malt immer das auf die nächste Seite, was die kleinen und großen Zuhörer*innen gerade denken. Dabei wird ihnen immer wieder eingeschärft, dass sie bloß nicht an Tiger denken sollen, denn es kann einfach keine Tiger malen. Alle anderen gemalten Tiere sind wirklich schön! Nur Tiger leider nicht. Wenn man aber immer wieder sagt, dass nicht an Tiger gedacht werden soll – dann denkt jeder ganz besonders an Tiger. Und so zieht sich durch dieses Buch eine ganze wunderbare Tigerbande … Mal blau, mal in Einzelteilen, mal mit Kaffeebecher. Wie das ausgeht? Am besten gucken Sie es sich an. Vielleicht im Bilderbuchpfad: Da ist es noch bis zum 23.11.2024 ausgestellt!
Verlagshaus Jacoby & Stuart, Übersetzung: Nicola Stuart, 978-3-96428-211-8, € 15,00