Lieblinge des Monats Juni.
Anfang Mai feiern wir deutschlandweit zum dritten Mal die Feministische Buchwoche. Darum habe ich für diesen Monat ausschließlich Bücher von Frauen ausgewählt – Bücher, die auf ganz unterschiedliche Art mit Geschlechterrollen brechen. Meist nicht, indem das explizit erzählt wird, sondern es ist „einfach“ Teil der gut erzählten Geschichte.
Genau das interessiert mich an Literatur: Das Geschehen neben dem Hauptstrang der Geschichte. Im Bilderbuch ist es Storch Lukas, der selbstverständlich fürsorglich ist. Im Jugendbuch stehen Mädels und Jungs gleichberechtigt nebeneinander – und die Künstlerin lebt ihr Leben selbstverständlich ganz der Kunst gewidmet, trotz Familie. In „Swift River“ sind es über fast ein Jahrhundert hinweg die Frauen, die Entscheidungen in Familiendingen treffen. Und Plautilla Bricci war im 17. Jahrhundert schon Architektin und kann als Role-Modell dienen, gerade weil sie Familie immer auch im Zentrum ihrer Gedanken und Entscheidungen hatte.
Die Sachbuchempfehlung hingegen widmet sich ausschließlich dem Feminismus. Mareike Fallwickl erklärt klug und verständlich, was er für die ganze Gesellschaft bedeuten könnte – und das mit der wunderbaren Aufforderung, hoffnungsvoll zu bleiben …
Karen Köhler: Himmelwärts
Toni wartet auf ihre Freundin YumYum – sie wollen diese Nacht im Zelt draußen schlafen. Zum Glück hat Tonis Papa das erlaubt und deckt die beiden Freundinnen, denn YumYums Mama hätte viel zu viel Angst um ihre Tochter. Was Papa aber nicht weiß ist: Sie haben ihr ganzes Taschengeld für Süßigkeiten und Knabbereien ausgegeben. Und sie haben ein kosmisches Radio aus den alten Walkie-Talkies gebastelt. Damit wollen sie vom Garten aus ins All funken. Sie hoffen, dass Tonis verstorbene Mama sich irgendwie meldet, denn Toni hat ganz große Vermissung. So große Vermissung, dass in ihr drin alles eisekalt ist. Ob die Sternschnuppe von Mama geschickt worden ist? Richtig spannend wird es, als sich tatsächlich ein Mensch meldet – mit Astronautin Zanna reden die beiden nicht nur über Alltägliches. Diese Nacht ist magisch und so wohltuend, dass Toni innerlich tatsächlich ein bisschen zu tauen beginnt …
Erst gab es das Theaterstück – und dann hat Karen Köhler aus ihrem Bühnenwerk diesen wundervollen Roman gemacht. Es ist keine leichte Geschichte, die sie erzählt, die Trauer um eine geliebte Person zieht sich durchs ganze Buch. Und doch ist da ein Weiterleben-Können, es gibt gelingendes Miteinander und Beistand im besten Sinne. Die Bilder von Bea Davies ergänzen den Roman auf sehr besondere Weise; „Himmelwärts“ ist ein Ausnahmebuch über eine Ausnahmesituation das ich am Liebsten jedem, ob groß oder mittelklein (es ist ab 10 Jahren empfohlen), in die Hand drücken möchte.
Hanser Verlag, 978-3-446-27922-3, € 19,00
Martha Schoknecht (Hrsg.): „Eins zwei drei wir – Was Gemeinschaft kann“
Tabea Steiner verknüpft in ihrem Essay Frauen, die für ihre Rechte demonstrieren mit dem Verhalten von Ameisen – und das ist keineswegs abwertend, sondern zeigt auf, wie wichtig Agieren im Kollektiv ist. Vielleicht steht dieser Text darum gleich am Anfang dieser Anthologie, in der es um die unterschiedlichsten Formen von Gemeinschaft geht. Vielleicht war die Aufgabenstellung genau diese: „Schreiben Sie einen Beitrag über ‚Gemeinschaft‘“ - entstanden ist ein Buch mit den unterschiedlichsten Ansätzen zum Thema, allesamt klug, allesamt lesenswert. Ich finde sogar, dass es guttut, es mehrfach zu lesen, es gibt ja auch genug Details zu entdecken!
Beat Sterchi und Erich Hackl berichten von zwei spanischen Dörfern, beide klein, beide weitab vom Nabel der Welt, und erzählen trotzdem ganz verschiedene Geschichten. Khue Pham und Deniz Utlu schreiben sich Briefe, in denen sie nicht nur, aber auch, über ihre Kindheit und Jugend als Einwandererkinder erzählen. Lea Catrina hört seit der Geburt ihres Kindes ein verbindendes „Ich weiß“, das zugleich tröstlich und ein bisschen erschreckend ist. Stefanie Jaksch beobachtet zu guter Letzt den Einfluss der Politik auf ihr Wohlbefinden. Und doch oder gerade deshalb endet dieser wichtige Essayband mit den tröstlichen Worten „Denn was immer kommt, wir können uns trotz allem immer füreinander entscheiden. Und ich schwöre, es dauert nur einen Moment (…), die Wärme in meinen Körper zurückkehren zu fühlen und (…) einfach loszugehen.“
Diogenes Verlag, 978-3-257-07341-6, € 20,00
Birgit Mattausch: Bis wir Wald werden
Babulyas Küche ist klein. So klein, wie eine Hochhausküche nunmal ist. Sie ist groß. Denn sie ist das Herz des Hauses, angefüllt mit Salbeibüscheln, eingelegten Gurken, Porzellan mit bunten Blumen und dem Samowar. So lange Nanush sich erinnern kann, war das so. So lange sie sich erinnern kann, leben sie beiden in der Wohnung im Hochhaus, eingebunden in die Hausgemeinschaft, deren eindeutige Chefin Babulya ist. Weil sie so gut erzählen kann – vom Leben am Schwarzen Meer. Und in den unendlichen, kalten Weiten Sibiriens. Von den Birken, dem Wald, den Gräbern, und Mome, Nanushs Mutter. Davon, wie sie in Russland „die Deutschen“ waren und darum ständig in Gefahr und oft im Gulag. Und in Deutschland „die Russen“. Dass sie das ja immer noch sind. Auch wenn einige nicht mehr im Hochhaus wohnen, sondern in Einfamilienhäusern am Stadtrand. Die Geschichten gibt es noch. Doch Babuya erzählt sie fast nicht mehr, sie wird immer weniger und nun ist Nanush diejenige, die sie pflegt. Wie es weitergeht? Das weiß vielleicht die Frau mit dem Kopftuch, die immer an der Bushaltestelle sitzt …
Birgit Mattauschs Roman erzählt fragmentarisch von Heimat, dem Ankommen im Neuen, einem Alltag, der geprägt ist von der Herkunft. Das liest sich, trotz des nicht ganz einfachen Themas, leicht und oft auch unterhaltsam. „Bis wir Wald werden“ erzählt von Gemeinschaft unter widrigen Bedingungen und davon, dass wir alle immer auch das sind, was unserere Vorfahren waren. Unbedingte Leseempfehlung.
Verlag Nagel und Kimche, 978-3-312-01379-1, € 14,00
Amanda Peters: Beeren pflücken
Joes Familie kommt seit vielen Jahrzehnten über den Sommer von Nova Scotia nach Maine, immer an denselben Ort, immer zum gleichen Farmer. Zusammen mit anderen Mi‘kmaq-Familien verbringen sie ihre Tage auf den Beerenfeldern, egal ob jung oder alt, alle helfen bei der Ernte. Joe ist das zweitjüngste von fünf Kindern, jünger ist nur Ruthie. Ruthie mit den wissenden Augen und der Klugheit für drei. Sie verbringen viel Zeit miteinander – bis zu dem Tag, an dem Ruthie einfach verschwindet. Alle helfen bei der Suche, doch sie bleibt verschwunden. Über Jahre hinweg bleibt die Suche, bleibt die Hoffnung, sie verändert alle und alles. Für die Mutter ist sicher, dass Ruthie noch lebt: Werden sie sie jemals wiedersehen?
„Beeren pflücken“ ist der Debütroman von Amanda Peters – und sie hat dafür mehr als einen Preis gewonnen. Vollkommen zurecht: Dieser Roman zeigt, wie Zusammenhalt eine Familie durch schreckliche Erlebnisse trägt. Die Autorin erzählt auf mehreren Zeitebenen und aus verschiedenen Perspektiven und bindet dabei immer auch die staatlichen Strukturen mit ein, unter denen Indigene zu leiden hatten; das Buch ist ein realistischer Blick auf deren Lebensumstände. Die Geschichte ist manchmal tieftraurig, oft erstaunlich und gleichzeitig wirklich was für die Seele!
Verlag HarperCollins,978-3-365-00944-4, € 24,00
Ralf Schwob empfiehlt - Ulrich Woelk: Mittsommertage
Es soll die Krönung ihrer beruflichen Laufbahn werden: Ruth Lember, Professorin für Ethik, soll in den deutschen Ethikrat berufen werden. Mit ihrem Mann, einem erfolgreichen Architekten, und ihrer Ziehtochter Jenny, die in Leipzig Kommunikationswissenschaft studiert, lebt die Mittfünfzigerin ein intellektuell wie emotional erfülltes Leben in Berlin. Als Ruth bei ihrer morgendlichen Joggingrunde von einem Hund gebissen wird, ist dies der Auftakt zu einer Woche voller Ereignisse, die am Ende nicht nur ihre Berufung in den Ethikrat infrage stellen wird. Vor allem das Auftauchen eines alten Liebhabers in einer ihrer Vorlesungen bringt Ruths geordnetes Leben gehörig durcheinander, erinnert er sie doch daran, dass sie vor vielen Jahren als junge radikale Umweltaktivistin an strafrechtlich relevanten Aktionen beteiligt war. Um ihre Ziehtochter Jenny, die einer neuen Aktivistengeneration angehört, vor gewaltsamen Aktionen zu warnen, schildert Ruth der jungen Frau, was sie damals getan hat und bis heute bereut. Leider zieht Jenny aus den Erzählungen Ruths ihre ganz eigenen Schlüsse und löst damit eine Folge von Reaktionen und Gegenreaktionen aus, die das Leben der Familie für immer verändern wird. Ulrich Woelk beherrscht die Kunst, komplexe und hochaktuelle Themen auf unterhaltsame, fast schon leichte Weise zu erzählen. Die politischen und philosophischen Grundfragen, die hier berührt werden, ergeben sich aus der Geschichte Ruth Lembers wie von selbst und wirken noch lange nach der Lektüre nach.
Verlag Btb, 978-3-406-80652-0, € 14,00