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Die besonderen Sachbuch Empfehlungen 2025 - Buchhandlung und Verlag Bornhofen in Gernsheim am Rhein

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Die Sachbücher der Lesepaten 2025
Sachbuch-Lesepatin Iris Steffan über
Franz-Stefan Gady: Die Rückkehr des Krieges - Warum wir lernen müssen, wieder mit Krieg umzugehen

"Wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor". Dies war schon eine lateinische Maxime und ist das Fundament auf dem das Prinzip der Abschreckung aufgebaut ist. Mir scheint es als sei dies auch das Motto unter dem auch dieses Buch steht.

Der Autor Franz -Stefan Gady ist während des Balkankrieges an der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien aufgewachsen und er schreibt, dass ihn diese Erfahrung schon früh geprägt hat. Er ist Militäranalyst und -berater und berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den USA. Er war schon an Kriegsschauplätzen im Irak, in Afghanistan und in der Ukraine.

Franz-Stefan Gady ist der Überzeugung, dass man eine gute Verteidigungspolitik braucht, um Krieg zu vermeiden. Eine gute Verteidigungspolitik besteht aus einer guten Zusammenarbeit von Außen- und Sicherheitspolitik; und eine gute Sicherheitspolitik ist seiner Meinung nach eine gute Abschreckungspolitik.
In seinem Buch beschreibt er, warum es wieder mehr Kriege gibt. Er geht auf verschiedene Fehleinschätzungen ein, die sowohl individuelle, technologische als auch strukturelle Ursachen haben. Im Weiteren beschreibt er, welches Wissen notwendig ist, um die "Natur des Krieges" zu verstehen und stellt zum Schluss mögliche Varianten vor, wie Kriege in der Zukunft aussehen können.

Das Buch von Franz-Stefan Gady lässt sich trotz des Themas leicht lesen. Durch viele Beispiele kann man auch Inhalte mit denen man nicht vertraut ist gut verstehen und nachvollziehen.

Ich würde mir wünschen, dass viele Menschen und vor allem Menschen in Entscheidungspositionen dieses Buch lesen.

Verlag Quadriga, 978-3-8699-5142-3, € 24,00


Sachbuch-Lesepatin Sarah Boger-Brückmann über
Bernhard Kegel: Mit Pflanzen die Welt retten

Wie könnte der Beitrag von Pflanzen zur Lösung unserer zukünftigen Probleme aussehen? Diese Frage stellt sich der Biologe Bernhard Kegel in seinem neuen Sachbuch „Mit Pflanzen die Welt retten“. Darin versucht er aufzuzeigen, welche „grünen“ Lösungen für eines der drängendsten Probleme unserer Zeit – den Klimawandel – aus naturwissenschaftlich-technischer Sicht am vielversprechendsten sind.

Auf überschaubaren 253 Seiten analysiert der Autor sachlich und kenntnisreich, ohne belehrend zu sein. Seine Schlussfolgerungen stützt er durch anschauliche Anekdoten, die unter anderem die Vor- und Nachteile von Aufforstungsstrategien, die Problematik der Moorentwässerung oder das Potenzial der Kohlenstoffspeicherung in Mangrovenwäldern, Seegraswiesen bzw. sogenannten blue carbon ecosystems verdeutlichen.

In seiner nüchternen Darstellung und der Konzentration auf technische und biologische Lösungen entsteht jedoch der Eindruck, dass es „lediglich“ einer begrenzten Anzahl solcher Eingriffe bedürfe, um eine Trendwende in der globalen Erwärmung herbeizuführen. Hier begeht Kegel einen grundlegenden Denkfehler: Er schlägt isolierte Lösungen für ein grenzüberschreitendes, komplexes Phänomen vor. Nicht ohne Grund wird dem Begriff Klimawandel das Adjektiv menschengemacht vorangestellt.

So vielversprechend die vorgestellten Maßnahmen auch erscheinen mögen – sie können nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Ursachen des Problems, etwa unserer Art des Wirtschaftens, betrachtet oder umgesetzt werden. Lässt man diese Kritik außen vor, ist die Lektüre durchaus anregend und lädt die Leserschaft dazu ein, sich aktiv am Diskurs über Maßnahmen gegen den Klimawandel zu beteiligen.

Letztlich reproduziert der Autor jedoch ein bekanntes Narrativ: dass soziale Probleme – und der Klimawandel ist vor allem ein soziales Problem – vorrangig durch naturwissenschaftlich-technische Ansätze lösbar seien.

Dumont Buchverlag, 978-3-8321-6850-6, € 25,00

Sachbuch-Lesepate Timm Brückmann über
Ingo Dachwitz und Sven Hilbig – Digitaler Kolonialismus

Kaum ein Thema hat den medialen Diskurs der vergangenen Jahre so sehr geprägt wie die sogenannte „Digitalisierung“. Ein dabei häufig vernachlässigter, jedoch äußerst wirkmächtiger Aspekt ist die tagtägliche Ausbeutung und Unterdrückung unzähliger Menschen im Globalen Süden durch wenige Tech-Konzerne des Globalen Nordens – in einem Muster, das stark an längst überwunden geglaubte koloniale Strukturen erinnert: den digitalen Kolonialismus.

Dieser Spur folgen die beiden Autoren, wenn sie unter anderem den Extraktivismus der Tech-Konzerne sowie die Arbeitsbedingungen ausgebeuteter Arbeiter:innen in afrikanischen Staaten anprangern. Die Beispiele sind eindrücklich dargestellt und hinterlassen die Leser:in nachdenklich. Kapitelübergreifend werden die Argumente gegen die schier überwältigende Macht des Silicon Valley mit eindrücklichen Fakten untermauert.

Der Text ist äußerst zugänglich und es bedarf keines expliziten Vorwissens, da die wenigen zentralen Konzepte zu Beginn verständlich eingeführt werden. Leider berühren die Autoren nur die Oberfläche der ungleichen Machtverhältnisse zwischen dem globalen Süden und Norden, welche durch die “Digitalisierung“ aufrechterhalten und zum Teil verstärkt werden.
Wichtige Konzepte und Beiträge aus jahrzehntelanger sozialwissenschaftlicher Forschung werden – wenn überhaupt – nur am Rande erwähnt. Zudem sind viele der genannten Fallbeispiele bereits seit Langem bekannt und werden – mit Ausnahmen – überwiegend aus Sekundärquellen zusammengetragen.

Zwar erhebt das Buch nicht den Anspruch, ein akademischer Beitrag zu sein, sondern will ein möglichst breites Publikum ansprechen, doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in vielen Fällen einer tiefergehenden Analyse der komplexen sozio-historischen Verhältnisse bedurft hätte, anstatt sich lediglich auf die Faktizität des Bestehenden zu stützen.

Die eigentliche Stärke des Sachbuchs liegt daher weniger in der Entschlüsselung oder Aufdeckung bislang unbekannter Mechanismen der Machtausübung multinationaler Tech-Konzerne oder Staaten des Globalen Nordens gegenüber dem Globalen Süden. Vielmehr besteht sie in der Sichtbarmachung der vielfältigen Akteur:innen auf lokaler Ebene, die den scheinbar zementierten Verhältnissen etwas entgegensetzen.

C. H. Beck Verlag, 978-3-406-82302-2, € 28,00


Sachbuch-Lesepatin Elke Rachut über
Ulli Lust: Die Frau als Mensch – Am Anfang der Geschichte

Ein kolossal spannendes und wichtiges Thema als Graphic Novel – es geht um die Anfänge der Kunst, die Darstellung des weiblichen Körpers und die Bedeutung der weiblichen Empathie für das Überleben der menschlichen Spezies.

Es ist nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick, das Buch macht es nicht leicht, seinen roten Faden zu finden und ihm zu folgen. Erst im dritten Anlauf verstehe ich, was die Autorin mir vermitteln will. Und das ist - ganz kurz und knapp – hätte es im Laufe der Evolution nicht die starken Einflüsse des vermeintlich schwachen Geschlechts gegeben, die Menschheit wäre allein mit den Einflüssen des vermeintlich starken Geschlechts bereits vor langer Zeit ausgestorben.

Die Frau als Mensch (als was denn sonst, bitte?) lädt zu einer literarischen Schatzsuche ein. Das Buch ist nichts für den schnellen Lesegenuss, es will entdeckt werden. Bei jedem Durchblättern finde ich neue Details, erschließen sich mir neue Zusammenhänge. Und bei jedem neuen Lesen wächst mein weibliches Selbstbewusstsein.

Reprodukt, 978-3-95640-445-0, € 29,00

Wir gratulieren Ulli Lust für ihre Graphic Novel „Die Frau als Mensch – Am Anfang der Geschichte“ zum Deutschen Sachbuchpreis 2025!

Sachbuch-Lesepate Roland Wilkens über
Martina Heßler: Sisyphos im Maschinenraum

Dieses Buch liefert, was der Untertitel verspricht: Eine Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Maschine.
In vier gut lesbaren Kapiteln wird der Zusammenhang zwischen fehlerhaften Menschen und überlegenen Maschinen sowie die Selbstverständlichkeit des Vergleichs kritisch beleuchtet. Die Autorin hinterfragt dieses (westliche) Denken, dass sich seit der industriellen Revolution verfestigt hat.

Das erste Kapitel präsentiert Konzepte, die einen überbordenden Maschinenglauben kritisieren. Es werden die historischen Debatten um „Mensch versus Maschine“ skizziert, in denen Günther Anders ein herausragender Protagonist war. Der technische Fortschritt wurde lange als Überwindung menschlicher Schwächen gefeiert, doch die Autorin zeigt, wie menschliche und technische Fehler zunehmend als Problemfelder dargestellt werden, die es mit immer raffinierteren 'technical fixes' zu lösen gilt. Es werden an dieser Stelle die Begriffe des Solutionismus und des Technikchauvinismus eingeführt und diskutiert.

Das zweite Kapitel hebt die Obsession der mechanischen Moderne hervor: vom Lügendetektor bis zum autonomen Fahren. Der fehlerhafte Mensch gilt als Produkt einer mechanischen Moderne in der die Maschine ein Ideal darstellt.

Das dritte Kapitel beleuchtet die Paradoxien des Konzeptes des fehlerhaften Menschen und der überlegenen Maschinen. Der Mensch wird zum 'Sisyphos im Maschinenraum' und ständig gezwungen, Fehler zu korrigieren und neue Maschinen zu bauen.

Das vierte Kapitel stellt das Pendant zum zweiten Kapitel dar. Hier geraten maschinelle Fehler in den Blick und wir sehen, wie das Bild der unfehlbaren Maschine erodiert. Mit der KI stoßen wir auf überforderte Menschen und überforderte Maschinen. Deutlich wird indessen eines: Das gegenwärtige Leben im Maschinenraum bedeutet eine Existenz unter fehlerhaften technologischen Bedingungen.

Nach meinem Eindruck macht das dem Buch vorangestellte Zitat von Douglas Coupland das Anliegen der Autorin mit diesem Buch sehr deutlich: "Und um ehrlich zu sein, die Welt in der wir leben ist so perfekt wie sie nur sein kann. Aber wir denken, dass die Welt schrecklich ist, also werden wir nie glücklich sein, und deshalb kann die Welt nie perfekt sein."
Leider zeigt sich an dieser Stelle, dass das Buch anscheinend schlecht lektoriert ist. Der Autor des Zitates wird im Text wie auch im Anhang fälschlicherweise mit Douglas Copeland angegeben.

Insgesamt ein gelungenes gut lesbares Buch, auch für Leser ohne naturwissenschaftlich-technischen Hintergrund.

C. H. Beck Verlag, 978-3-406-82330-5, € 32,00

Sachbuch-Lesepate René Granacher über
Walburga Hülk: Victor Hugo, Jahrhundertmensch – eine Biographie

„Victor Hugo, Jahrhundertmensch“ hat die Autorin ihr Buch betitelt. Warum „Jahrhundertmensch“? Damit ist natürlich mehr gemeint als die Lebensdaten von 1802 bis 1885, die etwa das 19. Jahrhundert abdecken. Hülk will sagen, dass Hugos Leben stark von den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in diesem Jahrhundert geprägt wurde – dass er aber auch selbst viel Einfluss auf eben diese Veränderungen, jedenfalls in Frankreich, genommen hat. Hugo wurde bekannt zur Zeit der Restauration, berühmt während der Julimonarchie, populär zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs durch sein selbst gewähltes Exil auf den Kanalinseln. Kaum war die Dritte Republik ausgerufen, kehrte er 1870 nach Paris zurück und wurde mit pathetischen Reden zum Volkshelden. 1885 sollen eine Million Menschen seinem Sarg gefolgt sein.

Beim Lesen des Buches wird klar, dass die Autorin noch mehr darstellen will als die Verflechtungen zwischen Lebens- und Zeitenlauf: Wie sich Frankreich im Laufe des 19. Jahrhunderts verändert hat, ist ihr eigentliches Thema – und Hugo dient ihr als Studienobjekt, an dem diese Veränderungen exemplarisch sichtbar werden. Er wandelte sich literarisch vom Romantiker zum Realisten, politisch vom Royalisten zum Republikaner. Weil das Umfeld, in dem das geschah, so großzügig ausgebreitet wird, greift Hülks Untertitel „Eine Biographie“ eigentlich zu kurz: Es wird weit mehr vorgestellt als ein einzelnes menschliches Leben.

Wir kennen Victor Hugo als Schriftsteller, dessen berühmtestes Werk „Notre Dame de Paris“ (deutsch auch „Der Glöckner von Notre Dame“) nach dem verheerenden Brand dieser Kathedrale vielen neu ins Gedächtnis gerufen wurde und wieder in die Hitlisten der aktuellen Bestseller kletterte. Hugo war aber weit mehr: Er engagierte sich politisch und als Kulturkritiker, gab als moralische und noch mehr intellektuelle Instanz einer ganzen Nation die Richtung vor – und inszenierte sich dabei immer auch ein gutes Stück selbst, manchmal bis hin zum Größenwahn. Er setzte sich auf verschiedene Weise für die Benachteiligten in der französischen Gesellschaft ein, nicht nur in seinen Büchern wie „Les misérables“ („Die Elenden“), kämpfte schreibend gegen Todesstrafe, Sklaverei und für Frauenrechte.

Es ist also richtig, wenn Hülk den Blick nicht nur auf das literarische Schaffen richtet. Tatsächlich scheint es aber oft, als interessiere sie Hugos Seite als Literat weniger als die gesellschaftlichen Verflechtungen, in denen er sich bewegte. Die Neigung zu ausschweifenden Exkursen prägt das ganze Buch: Man liest viel, was das Bild des 19. Jahrhunderts in Frankreich oder Europa illustriert, mit Victor Hugo aber nichts zu tun hat. Zu dessen Hauptwerk „Notre Dame de Paris“ wird gar eine Seite lang dargestellt, was im Jahr 1482, in dem der Roman spielt, alles auf der Welt geschehen ist.

Natürlich erfährt man auch viel über das vielfältige Werk Hugos. Er schrieb Gedichte, Dramen, Romane und anderes mehr – eine Schaffensbreite, die den französischen Nationaldichter mit seinem deutschen Pendant Goethe verbindet. Auch gilt für beide, dass sie heute noch viel verehrt, aber nur noch wenig gelesen werden.

Man darf annehmen, dass die Autorin von der Person Victor Hugo fasziniert ist, wenn sie ihm ein ganzes Buch widmet – zugleich aber scheint sie nicht sicher zu sein, dass sich diese Faszination auch auf den Leser überträgt. Darum vielleicht weitet sie das Thema in so viele Richtungen aus, die zusätzliches Interesse generieren könnten. Leben und Treiben von Hugos Bekanntenkreis, anderen Literaten, Künstlern, Herrschern usw. werden ausführlich dargestellt.

Außerdem ist die Schilderung nicht etwa chronologisch. Es soll möglicherweise die Spannung erhöhen, wenn der Text ständig zwischen verschiedenen Zeitpunkten im Leben Hugos hin- und herspringt. Das erste Kapitel als Beispiel: Der Text beginnt mit dem Geburtsjahr, springt bald nach 1821, zurück nach 1802, dann nach 1820, folgt dann eine Weile der Chronologie von 1802 bis 1814, dann geht es zurück nach 1809, dann 1812, 1871, zurück nach 1815 etc. etc. Dem Erzählfluss dient ein solches Vorgehen nicht gerade.

Schön ist, dass auf den Text (etwa 450 Seiten) nicht nur Anmerkungsteil, Literaturverzeichnis und Zeittafel folgen, sondern auch ein Index der Personen, die erwähnt werden (ein Sach- und Ortsverzeichnis wäre auch nicht schlecht gewesen). Dass in der Liste etwa Giuseppe Garibaldi, Sigmund Freud oder Zar Nikolaus II. vorkommen, zeigt noch einmal, wie weit Hülk ihren thematischen Bogen spannt. Mehr als 100 Illustrationen sind im Buch eingestreut, allerdings nicht immer von überzeugender Druckqualität.

Über Hugos Leben liest man viel, über seine Lebensumwelt noch mehr, einen Blick in das Innere des Menschen Victor Hugo tut man dennoch nicht. Psychologische Aspekte interessieren die Autorin wohl weniger als die Flut äußerer Einflüsse und Ereignisse, die den „Jahrhundertmenschen“ bewegt haben. So bleibt er, obwohl man so viel über ihn und seine Zeit erfährt, dem Leser am Ende doch ein Fremder.

Das Buch ist weniger denen zu empfehlen, die ein Bild von Leben und Werk Hugos bekommen wollen. Wer sich hingegen für seine Epoche im Allgemeinen interessiert, wird viel daraus mitnehmen können.

Matthes & Seitz, 978-3-7518-2033-2, € 38,00

Lucia Bornhofen über
Aladin El-Mafaalani / Sebastian Kurtenbach / Klaus Peter Strohmeier: Kinder – Minderheit ohne Schutz

Sachbücher liegen nicht ständig auf meinem SuSch, mehr als zehn im Jahr lese ich eher nicht. Vielleicht fand‘ ich deshalb den Einstieg ein wenig mühsam. Andererseits ist der Einstieg – nicht das Vorwort, das quasi vor allem erst Mal grob umreißt, um was es in dem Buch gehen wird – unbedingt notwendig: Ohne die genaue Analyse von Kindheit heute, wie sie die Autoren in den Kapiteln eins bis vier vornehmen, ist auch keine realistische Empfehlung für den Umgang mit eben diesen Kindheiten, für die Verbesserung der Lebensumstände möglich. Denn darum geht es El-Mafaalani, Kurtenbach und Strohmeier: um ein Heranwachsen, das den Bedürfnissen von Kindern gerecht wird. Weil es einfach Menschenrecht ist. Aber auch, weil wir gebildete, entspannte und empathische junge Erwachsene brauchen in unserer und für unsere Gesellschaft.

In der zweiten Hälfte des Buches, die deutlich einfacher zu lesen ist, erläutern die Autoren auf Basis der Analysen vorher, was Kinder brauchen (Kapitel 5), was Kitas und Schulen können und anbieten sollten - und auch, was bisher meist angeboten wird (Kapitel 6); außerdem, was Sozialraum und Nachbarschaft im Alltag von Kindern ausmachen und wie Veränderung dieser Räume auch die Kindheiten verbessern kann (Kapitel 7).

Das habe ich mit großem Interesse und viel Wissensgewinn gelesen. Auch, weil ich ganz regelmäßig in Einrichtungen unterwegs bin. Besonders aber, weil ich wirklich gerne mit Kindern zu tun habe und wissen möchte, wie ich aktiv hilfreich sein kann. Ich glaube, dass die Buchhandlung für Kinder ein guter Ort ist, wir gehören zur „Nachbarschaft“ vieler, auch wenn wir gar nicht direkte Nachbarn sind. Aber wir sind beständig da und ansprechbar bei vielem.

Kapitel 8 beschreibt, wie die „Boomer“ Potenzial und Chance für Kinder sein können. Dem stimme ich Großteils zu und würde mir wünschen, dass viele „Boomer“ den Anregungen dieses Buches folgen. Schwierig ist für mich, dass das beinahe als Allheilmittel dargestellt wird. Aber das kann man vielleicht auch anders lesen. Mit ihrem „Plädoyer für einen Minderheitenschutz für Kinder“ (Kapitel 9) haben sie mich jedenfalls wieder vollkommen bei sich: Es ist die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, Kindern gute Startmöglichkeiten zu bieten und Kindheiten gelingen zu lassen.

Alles in allem ist „Kinder – Minderheiten ohne Schutz“ ein wichtiges Buch, dem ich viele, viele Leser:innen wünsche. Und danach – wo ich schon beim Wünschen bin – viele, viele tatkräftige Erwachsene zur Unterstützung gelingender Kindheit!

Verlag Kiepenheuer & Witsch, 978-3-462-00752-7, € 24,00

Lucia Bornhofen über
Ines Geipel: Fabelland – Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück

35 Jahre Mauerfall – darüber reflektiert die Journalistin und Poetik-Professorin Ines Geipel in ihrem Sachbuch sehr persönlich und sehr kenntnisreich. Ihr Buch ist nicht einfach zu lesen, sie nähert sich den Entwicklungen der letzten dreieinhalb Jahrzehnte über sehr verschiedene Punkte an. Ihre persönlichen Erfahrungen fließen immer wieder mit ein: Geipel floh im Sommer 1989 aus der DDR in den Westen und beobachtete den Mauerfall von Darmstadt aus. Vor ihrer Flucht studierte sie Germanistik, ihr Blick auf die DDR ist oft von philosophischen Fragen geprägt. Auch der Beruf ihres Vaters, der als Stasi-Mann immer wieder und unter immer neuen Namen in der Bundesrepublik aktiv war, beeinflusst diese Sicht auf den Staat.

Aber auf das Persönliche lässt sich ihr Buch keinesfalls reduzieren. Den Vater nimmt sie zum Beispiel als Basis, um die Spionagetätigkeiten und Verflechtungen mit Russland zu beschreiben, und von da aus die politischen Entwicklungen bis hin zum Krieg gegen die Ukraine zu dokumentieren. Sie geht außerdem in die Vergangenheit und zeigt auf, wo und wie Geschehnisse der Nazi-Zeit im Staatsapparat der DDR umgedeutet und zu eigenen Zwecken missbraucht wurden.
Auch die Einflussnahme der Politik in die Studiengänge, die Positionen von Universität und einzelnen Professoren bis zurück in den Nationalsozialismus, sind ihr geläufig und fließen ins vorliegende Sachbuch mit hinein.

Geipel schreibt nicht stringent im Zeitverlauf. Vielmehr verknüpft sie Geschehnisse verschiedener Zeiten und Orte im Versuch, Zusammenhänge und Hintergründe aufzuspüren. Das macht „Fabelland“ wirklich interessant, aber gleichzeitig auch schwierig. Bei der Stange hält ihre Sprache, die sehr bildhaft ist, fast poetisch. Und Geipels enormes Wissen, das aus jedem Absatz herausspringt.
Warum das Buch außerdem wichtig ist? Weil es die Stimme erhebt, sehr deutlich erhebt, gegen die Geschichtsverklärung – nein, ganz sicher war es in der DDR nicht besser als es heute ist.

Ich habe direkt nach dem Mauerfall mit Anfang 20 in Freiberg ein Steuerbüro mit aufgebaut. Viele Bilder, die Geipel aufruft, finden in meiner Erinnerung einen Widerhall. Einiges ist mir aus eigenem Erleben bewusst, zum Beispiel die Arbeit der Treuhand, mit der ich ja direkt zu tun hatte. „Fabelland“ hat Wissenslücken geschlossen und zeigt das „Große Ganze“ bis hinein in die Jetztzeit. Von mir gibt es eine unbedingte Leseempfehlung!

S. Fischer Verlag, 978-3-10-397568-0, € 26,00

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