Buchmesse - Gastland - Lieblinge des Monats Oktober
Buchmesse 2025: Die Philippinen
Wie in den letzten Jahren präsentiere ich Ihnen einen klitzekleinen Ausschnitt von Literatur aus dem Gastland der Frankfurter Buchmesse! Spannend fand ich vor allem, dass es im Verhältnis sehr viel mehr Bücher aus und über die Philippinen von kleinen unabhängigen Verlagen gibt; sie stellen sich der Aufgabe, uns eine Welt näherzubringen, die sich in so vielem von unserem Alltag unterscheidet. Aber auch die Mischung aus christlichem Glauben, den die Spanier im 16. Jahrhundert mit reichlich Waffengewalt auf den vielen philippinischen Inseln eingeführt haben, und den bis dahin vorhandenen „heidnischen“ Bräuchen fasziniert. Viele Worte und Bezüge sind nur mit Glossar verständlich und einiges selbst dann nicht. Und trotzdem haben mich die Bücher im wahrsten Sinne des Wortes mitgerissen!
Allan N. Derain: Das Meer der Aswang
War Luklak nicht schon immer anders? Unabhängiger, als ein Mädchen mit 15 Jahren sein sollte? Zuverlässiger als üblich? Oder war der Beginn dieser Abend am Fluss, an dem sie Fleisch grillte, obwohl das untersagt war? Dieser Abend, als die Faulatmigen zum ersten Mal auf sie aufmerksam wurden? Wie auch immer, nun ist es so: Luklak verlernt erst das Gehen – lässt sich aber nicht davon abhalten, die Welt zu erkunden und ihr eigenes Ding zu machen. Ihr Vater versucht mit Hilfe des Heilers und aller nur möglichen Aktivitäten, diese Veränderung rückgängig zu machen. Doch irgendwann verschuppt ihre Haut – und sie wird zum Krokodil, zur Aswang … „Die wahre Aswang (…) steht zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit und zwingt dazu, den Unterschied zu bedenken.“
Dieser Roman ist durchzogen von Anspielungen auf den vorchristlichen Glauben. Von Kreaturen ist die Rede, die keine Menschen sind und ganz anders riechen, weshalb sie den Beinamen „Faulatmige“ haben. Vom Leben im Hochland, von weisen Frauen und vornehmen Binukots, aber auch von Sagenfiguren aus alten Erzählungen. Ab und an „erhascht“ man Begebenheiten, die mit westlich-europäischer Sicht gut verständlich sind – und erlebt ein Verweben von neuer, aufgezwungener und alter, gewachsener Kultur. Insgesamt ist das eher schwierig zu lesen. Aber gerade dieses Gegenüberstehende macht das Buch auch besonders reizvoll: Wir Leser:innen lernen eine vollkommen andere Kultur kennen, als die, in der wir leben – und verstehen ein wenig mehr vom Leben dort.
Unionsverlag, Übersetzung: Annette Hug, 978-3-293-00634-8, € 24,00
Katrina Tuvera: Die Kollaborateure
Carlos steht kurz vor einer größeren OP, bei der nicht klar ist, ob er sie überleben wird. Frau und Tochter besuchen ihn regelmäßig und bringen ihre eigenen Sorgen und Nöte mit – sowohl, was Alltag und Vergangenheit angeht, als auch den Umgang miteinander. In sich überlagernden Rückblenden, die eher thematisch als chronologisch geordnet sind, erzählen diese drei vom Leben auf den sich im Wandel befindlichen Philippinen. Carlos, dessen Vater sich als Schuldirektor immer wieder neuen Machthabern anbiedern und unterordnen muss, studiert Jura und geht in die Politik. Die Gesetze zum Wohle der Allgemeinheit zu verändern, das ist sein Anliegen. Dass er dafür manchmal die Seiten wechseln muss, weil ein neuer, anderer Politiker vielversprechender scheint, nimmt er billigend in Kauf. Doch wann ist das Wohl der Allgemeinheit noch Triebfeder und wann der eigene Machterhalt? Carlos ist sich nicht sicher, ob und wann das gekippt ist. Dass seine Tochter ihm die Arbeit für Ferdinand Marcos sen. vorwirft, dass sie keine gemeinsame Sprache für die Politik finden, das bemerkt er erst auf dem Krankenlager. Und dass seine Frau eigentlich lieber ein ganz anderes Leben geführt hätte, das bemerkt er eigentlich gar nicht.
Katrina Tuveras „Kollaboratuere“ sind Menschen, die eigentlich „nur“ ihr Land zum Guten verändern wollen. Und die dabei vieles in Kauf nehmen, von persönlichen Verlusten bis hin zu gewalttätigen Revolutionen. Hineinverwoben in ihren Roman erzählt Tuvera die Geschichte der Philippinischen Demokratie. Auch die Vorgeschichte, also die Kolonialisierung durch die Spanier und später Amerikaner sowie die japanische Besatzung während des zweiten Weltkrieges, spielt in den Roman mit hinein – denn nur durch das Wissen um historische Zusammenhänge, ist halbwegs fassbar, wie dieses Land „funktioniert“. Sehr hilfreich fürs Verstehen war auch das Nachwort von Annette Hug. Dieser Roman ist eine große Empfehlung!
Wagenbach Verlag, Übersetzung: Jan Karsten, 978-3-8031-3380-9, € 22,00
Archie Oclos: Die Straßenkatzen von Manila
„Rumstreunen – Dösen – Im Dunkeln / Sonnenlicht – Schutzlos – Hektik“
Was anmutet wie Teile eines Gedichts ist tatsächlich eine völlig andere und ungewohnte Form zu erzählen: Der Autor und Zeichner Archie Oclos schreibt jeweils nur drei Stichworte pro Seite, mit deren Hilfe man sich die Geschichte selbst erarbeiten muss. Natürlich stehen die Worte nicht völlig alleine da, sondern ihnen gegenüber befindet sich eine Zeichnung im Seiten-Vollformat. Das ist nicht immer leicht, denn je nachdem, was man sich genauer betrachtet, Katze, Hintergrund, menschliche Akteure, bekommt die Doppelseite einen anderen Klang. Bei der Zeichnung zum ersten Dreiklang sieht man tatsächlich eine sehr entspannte Katze, die im Dunkeln döst – der zweite Blick offenbart, dass sie es sich im Fahrgestell eines Autos bequem gemacht hat. Die Entspannung kippt in Wachsamkeit.
Es sind fünf Geschichten von sechs Katzen, die Oclos zeichnet und Be-Stichpunktet. „Seine“ Tiere leben in ganz unterschiedlichen Situationen, sie alle haben ihr festes Revier. Außer „Die Prinzessin aus der Wohnanlage“, die eigentlich eine reine Wohnungskatze ist und sich nach ihrer Flucht kaum zurechtfindet. Die sechste Geschichte handelt vom Aufeinandertreffen und dem sich formierenden Miteinander. Die Schlusssequenz ist tatsächlich ungemein versöhnlich.
Archie Oclos beendet sein Buch mit einem Nachwort, hier gibt er uns Leser:innen Hintergrundinfos zu jeder Geschichte. Und hier erklärt er auch, dass die Katzen die breite Masse der philippinischen Bevölkerung, insbesondere auch die Mitglieder der unteren Schichten, repräsentieren sollen – dieses besondere Buch gewährt also einen kleinen Einblick in den Alltag der 20-Millionen-Stadt Manila.
Culturbooks, Übersetzung: Jan Karsten, 978-3-95988-246-0, € 22,00
Candy Gourlay: Wild Song
Es gibt feste Regeln im Dorf. Mädchen bauen Reis an, stampfen Dung, kümmern sich um die Kleinen. Jungen dürfen jagen – und das ist auch nötig, damit es im Dorf genug zu essen gibt. Luki hält sich nicht daran, schon als kleines Mädchen trug sie lieber einen Lendenschurz und war im Wald. Samkad und sie verbindet nicht nur eine große Freundschaft, sondern auch ein Geheimnis: Sie gehen gemeinsam und es ist Luki, die es schafft, Tiere zu erlegen. Als die Wahrheit bekannt wird, soll Luki Samkad heiraten, das würde ihre Ehre und die des ganzen Dorfes retten. Stattdessen entschließt sie sich, mit dem Amerikaner Truman Hunt mitzugehen – er sucht Hochlandbewohner, Igorot genannt, die sich auf der Weltausstellung in Saint Louis zur Schau stellen. Doch statt in der Freiheit – „My country `tis of thee, sweet land of liberty“ – kommen sie in einem streng bewachten kleinen Bereich an, den sie kaum verlassen dürfen. Und müssen lernen, dass alles, was sie können und tun, in Amerika anderes verstanden wird …
„Wild Song“ ist ein großartiger Jugendroman über eine junge Frau, die ihr Leben in die Hand nimmt. Gerade die Nähe zu tatsächlichen Ereignissen macht ihn relevant und faszinierend – und gleichzeitig erschütternd, denn diese Zur-Schau-Stellungen, die eindeutig rassistisch und menschenunwürdig waren und die viele Menschen nicht überlebten, sind kaum mehr als hundert Jahre her. Wir Leser:innen werden mitten hineingezogen in den Alltag im philippinischen Hochland und auch den während der Ausstellungen. Luki ist eine beeindruckende Hauptfigur, obwohl (oder gerade weil) sie nicht nur positiv agiert und reagiert. Dieses Buch ist viel mehr als eine einfache Coming-of-Age-Geschichte: Es ist in der Quintessenz ein wichtiges Statement für Toleranz und gelingendes Miteinander.
Rotfuchs, Übersetzung: Alexandra Rak, 978-3-7571-0194-7, € 19,90
Ester Tapia: Wo ist der Drachenflieger?
Das titelgebende Gedicht handelt von Mutter und Kind, die hintereinander einem Gipfel zustreben, als wären sie mit Nylonfäden verbunden. Der Wind bauscht die Röcke auf, sie wirken wie Drachen – doch wer lässt sie steigen? Ein anderes Gedicht handelt vom Wasserholen, ein weiteres von Erinnerungen, die dich plötzlich mit sich reißen. Sie alle haben einen sehr besonderen Ton: Sie erzählen von Unglück und Armut, von Willkür und Gewalt ohne zu beschönigen. Meist sogar ohne einen Blick ins Positive. Und doch sind sie nicht pessimistisch – sie erzählen, damit Menschen und Vorfälle nicht vergessen gehen und nicht, um anzuklagen. Wer sich davor schon ein wenig mit philippinischer Geschichte auseinandergesetzt hat, kann einige Themen auch zuordnen im ersten Teil des Gedichtbandes, der mit „Philippinen“ überschrieben ist.
Die anderen beiden Teile „Deutschland“ und „Tibet“ haben eine andere Färbung. Und zumindest den mittleren Teil kann ich mir in einer ganz anderen Weise erlesen – wenn von Kirchenglocken, Bahnhöfen, Vögeln und Marc Chagall die Rede ist. Auch hier schreibt Ester Tapia nicht anklagend, auch hier finden sich trotzdem kritische Töne. „Tibet“ hingegen ruft Bilder auf, die im allgemeinen Gedächtnis verankert zu sein scheinen, mir kommen die Gedichte weniger fremd vor, als die im ersten Teil.
Gedichte zu lesen ist etwas sehr Persönliches. Vielleicht kommen Sie zu ganz anderen Leseerlebnissen. Ich möchte Ihnen diesen Gedichtband jedenfalls sehr ans Herz legen – denn auch hier findet sich wieder ein Teil „Gastland“, den es zu entdecken gibt.
Edition offenes Feld, Übersetzung: Sibylle Klefinghaus, 978-3-8192-8076-4, € 19,00
Eugene Evasco / Pepot Atienza: Feiern auf Philippinisch
„Das ist Tilly. Und das ist Oma. Tilly möchte eine Geschichte über winzige Gespenster erzählen. Oma möchte eine Geschichte über riesige Erdbeeren erzählen. Die beiden können sich nicht entscheiden, welche Geschichte sie dir erzählen wollen. Also haben sie stattdessen mich gebeten, dir ein paar Geschichten zu erzählen.“
So beginnt dieses gerade erschienene Bilderbuch über das kleine Igelmädchen Tilly, die bei ihrer Oma lebt. Es hat zehn Kürzestgeschichten, die auch schon für Kinder ab 2 Jahren geeignet sind; sie sind in einfachen Worten und kurzen Sätzen erzählt und bilden den Erlebnishorizont von Kleinkindern ab. Vor allem aber lösen die Geschichten von Tillys schrumpfender Lieblingsdecke, ihrer Gespensterverkleidung, Tillys Lieblingsbären Clem oder dem Schlechte-Laune-Tag ein wohliges Gefühl aus, sogar bei den Vorlesenden … Es gibt noch mehr Geschichten, es sind insgesamt zehn Alltagsabenteuer, manche nur vier Seiten, andere acht – immer genau so viel, wie eine Geschichte braucht, um nicht zu wenig und nicht zu viel zu erzählen. Die Bilder dazu, genau wie der englische Ursprungstext, stammen von Stephanie Graegin. Mal sind es kleine Detailbilder, mal großflächige Illustrationen (mein Liebling ist die Doppelseite „Tilly besucht Herrn Grün“), immer sind die Farben eher gedeckt. Schön ist auch, dass Graegin keine stereotypen Gesichter zeichnet, sondern jedes Gefühl in Tillys, Omas und die anderen Gesichter hineinmalt. Schön ist auch das eher kleine Format, welches das Buch handlich und sehr gut transportabel macht. Dieses Bilderbuch ist eine feine Ergänzung (oder ein Ersatz?) für die Abenteuer von Bobo Siebenschläfer …
annette betz verlag, Übersetzung: Karolin Viseneber, 978-3-219-12088-2, € 16,00